Der weltweit angesehene Universalgelehrte George Steiner untersucht und beschreibt das selten geglückte und oft prekäre Verhältnis von ›Meister und Schüler‹ an ausgewählten Beispielen der Religions-, Philosophie- und Kulturgeschichte. Von WOLFRAM SCHÜTTE
Die Danksagung »sagt« zwar nicht alles, aber doch etwas, das mit diesem Buch zuinnerst zu tun hat. Der 1929 in Paris geborene Komparatist George Steiner schreibt da: »Mein Sohn Professor David Steiner von der Universität Boston und seine Frau Dr. Evelyne Ender (eine frühere Schülerin von mir) werden wissen, was ihre Anwesenheit für mich bedeutete. Während der ganzen Zeit«, in der sich der in Genf & Cambridge (England) ansässige Autor im Jahre 2001/2002 an der Harvard-Universität (USA) für die dem Buch zugrunde liegenden Vorlesungen aufhielt, »war die Gefährtenschaft in Lehre und Forschung, die mir meine Frau Dr. Zara Steiner zuteilwerden ließ, beispielhaft«. Die Widmung des Buchs gehört auch noch dazu: »Für Rebecca, für Miriam, eines Tags«. Es werden wahrscheinlich die noch nicht zur akademischen Reife herangewachsenen Töchter des »Meisters« sein, die »eines Tages« nachlesen könnten, was der Vater, gewissermaßen im Familienverbund und der engen »Gefährtenschaft« eines akademisch nobilitierten Wissenschaftlerclans, in sechs Vorlesungen, einer Einleitung und einem Nachwort, am Ende eines unvergleichlich großartigen und (fügen wir hinzu:) singulären Geisteswissenschaftler-Lebens über das hochkomplexe, intime, tragikomische Verhältnis von Lehrer & Schüler oder besser: in der mythischen Form von Meister & Jüngern zu sagen hatte.
George Steiners »Der Meister und seine Schüler« ist eine Summa des innersten Kerns von Tradition, der immer zu erneuernden Weiter- & Übergabe des immer neu zu (er)findenden Wissens; und wer Steiners geistige Autobiographie »Errata« (1999) gelesen hat, erinnert sich, dass er dort schon ausführlich und con amore von seinem eigenen Schüler- & Lehrer-Verhältnis im Laufe seines Gelehrtenlebens geschrieben hatte – im glücklichen Gelingen einer akademischen Karriere, die zugleich auch eine literarisch-essayistische war. George Steiners Lehrtätigkeit hat ihn, wie die drei schon erwähnten Orte und deren Universitäten es markieren, nicht nur an die hervorragendsten geisteswissenschaftlichen Institute der westlichen Welt geführt; sondern dieser vielsprachige »Fürst des Wissens« ist als Autor ebenso dichter wie origineller literarischer Prosa in allen großen Sprachen und Kulturen der Welt präsent. »Keiner wie Steiner« – könnte man kalauernd versuchen, die doch nur bewundernswerte Intelligenz, Feinfühligkeit, Interessensweite und kreative Produktivität des lehrenden und publizierenden Komparatisten mit einem Witz zu charakterisieren. Denn es gibt weltweit keinen zweiten Geisteswissenschaftler, der gleich ihm die Fülle & Vielfalt der (nicht nur, aber doch vornehmlich) »abendländischen« Kultur von der Theologie, über Philosophie, Philologie, Literatur und Musik derart mit einander ins Benehmen setzen könnte, dass einem »Bildung« als ein lebendiger Kosmos der immer währenden Antworten und Befragungen erscheint, welche menschliche Phantasie, Intelligenz und Kunst der physischen Welt hinzugefügt haben.
Ernst Blochs teleologischer Streifzug auf den Spuren des »Prinzips Hoffnung« in seinem gleichnamigen Universalabriss könnte da vielleicht mithalten, wenn man an das Oeuvre George Steiners und seinen interpretatorischen Steifzügen von der Antike bis zur Gegenwart denkt. Vielleicht ist dieser Uomo Universale der letzte – und dass er als (vorläufig) Letztes sich Gedanken macht über das Erste, Fundamentalste von Bildung, Tradition und Wissen, ist schlüssig – wenngleich der »Meister« George Steiner keinen »Schüler« (mehr) hatte, der ihm namhaft nachfolgte – wie ja auch in der deutschen Kultur- & Geisteslandschaft auf Größen wie Hans Mayer, Robert Minder, Ernst Robert Curtius kein vergleichbarer »Universalist« folgte, wenn man einmal Peter Sloterdijks anders geartete solitäre, selbstdenkerische und semantische Münchhauseniaden außer Acht lässt.
Es geht ja auch Steiner um »Meister und seine Schüler«, von Sokrates, Platon und Jesus, über die chassidischen Rebbe bis zu Heidegger oder Popper – wobei ihm (ein schmerzliches Manko) das, was man »Kritische Theorie« oder »Frankfurter Schule« nennen mag, offenbar ein erstaunlich blinder Fleck bleibt, womöglich, weil der konservative Steiner (wie sein »Heidegger«-Buch und seine Wittgenstein-Kenntnis akzentuieren) philosophisch eher der Ontologie als der Dialektik zuneigt und die antimetaphysischen Sozialwissenschaften im hohen Ernst seiner spekulativen Hermeneutik eher wie ein Kellerkind behandelt. (Nur der Schriftgelehrte Walter Benjamin macht für ihn eine Ausnahme).
Wenn Steiner über die Typologie des Verhältnisses von Meister und Schüler in seinen Vorträgen nachdenkt, also auch primär über verbale Kommunikation und erst danach über deren schriftliche Fixierung (meist durch die Jünger wie Platon oder die Evangelisten), hat er unter psychologischen, intellektuellen oder historischen Gesichtspunkten drei essenzielle Beziehungen vor Augen: 1. das geglückte Verhältnis von Geben & Nehmen im Blick auf das verbindende Ganze, 2. das ausbeuterisch-vampiristische Verhältnis, in dem der Meister seine Schüler zu Zu- & Beiträgern oder Sendboten macht und am Ende entkernt zurücklässt; 3. die Emanzipation oder den Verrat des Schülers am Lehrer, sei es, dass er den Lehrer, der in ihm seinen Nachfolger gesehen hatte, persönlich hintergeht (wie Heidegger es mit Husserl getan hat), sei es, dass er Genie genug hat, um mit ihm brechen zu müssen, nach der Devise eines merkwürdigerweise von Steiner nicht zitierten Wortes Nietzsches: »Man vergilt es seinem Lehrer schlecht, wenn man immer nur sein Schüler bleibt«.
Es ist nicht verwunderlich, dass der nach Jüngern lechzende, aber einsam gebliebene Privatgelehrte und »Zarathustra«-Mythologe am weitesten gegen sich selbst und seinen Anspruch als Meister denken konnte. Aber George Steiner ist souverän genug, Nietzsches apostatische Lehre zu paraphrasieren, wenn er schreibt: »Groß zu lehren heißt, im Schüler Zweifel zu wecken, ihn zum Andersdenken auszubilden. Es heißt, den Jünger für die Abreise zu schulen« – was für beide wohl nie ohne Loyalitäts-Schmerzen abgeht (aber, wenn im Schüler sich ein Meister entpuppt, notwendig ist.)
Abgesehen von dem ersten Typus, der gewissermaßen die Utopie des akademischen Lehr- und Lernbetriebs ist und für jemanden wie George Steiner zu den beglückendsten Erfahrungen im Umgang mit dem »pädagogischen Eros« gewesen sein dürfte, sind die beiden anderen menschlichen und geistigen Verhältnisse tief greifend für Lehrer wie Schüler – und öffnen das Feld für charakterologische und kulturelle Überlegungen in der »Pädagogischen Provinz«.Mehrfach betont Steiner, wie stark und entschieden der »Meister«, wenn er denn einer ist und nicht bloß ein »Lehrender«, in die Psyche seiner Schüler eingreift und deren gesamte geistige Entwicklung prägt, erst recht, wenn er »Charisma« besitzt, aus dessen Dunstkreis sich nur die eigenwilligsten seiner Jünger (nach meist langer Abnabelung) entfernen können. Manche »Beschädigte« fristen oft nur als seine unfreiwilligen Kopien ihr künftiges Dasein.
Nur einmal in unserer Gegenwart sieht Steiner, was einzig in der Antike Sokrates eigen war, nämlich Selbstlosigkeit des Meisters, auch verwirklicht. Die französische Musiklehrerin Nadia Boulanger habe die hervorragendsten Musiker und Interpreten des 20. Jahrhunderts ausgebildet – und nur Kenner der Materie wussten davon. Jetzt hat ihr Steiner einen Kranz gewunden und uns Kenntnis von ihr gegeben. Weniger verborgen sind seine ausführlichen Darstellungen des moralisch schäbigen Verhalten Heideggers zu seinem jüdischen Lehrer & Förderer Edmund Husserl und das lange verborgene Liebesverhältnis des Meisters von »Sein und Zeit« zu seiner begabtesten Schülerin Hannah Arendt, was den Komparatisten zu einem berühmten Vorläuferfall führt: Abaelard & Héloise.
Ein ebenso ausgebreitetes und gewissermaßen als biographische Doppelfuge von Steiner gespieltes Kapitel ist das gestörte Verhältnis des Astronomen Tycho Brahe zu seinem Schüler Johannes Kepler und Max Brods zu Franz Kafka, wobei als tertium comparationis Brods Kafka gewidmeten Roman über den Prager Astronomen dient. Denn Brahe behandelte den jungen Kepler nicht als Kollegen, sondern als Domestiken, dem er bis kurz vor seinem Tod von seinen Erkenntnisschätzen ausschloss, wohingegen Brod ahnte und wusste, dass seine Publikation des Oeuvres seines früh verstorbenen Freundes & Kollegen ihn selbst als Autor nur noch zu einer Fußnote Kafkas machen würde: »ein Akt höchster Moralität und Selbstzerstörung« (Steiner).
In unterschiedlich dicht geschriebenen Vorlesungen betrachtet der mehrsprachige Kenner & Liebhaber vielfältige »meisterliche« Erfahrungen; jedoch verfolgt er damit weniger eine Systematik, sondern bevorzugt mehr die schweifende Form von Essays, in denen er sein selbst gesetztes Thema enger (Dante/Vergil) oder weiter (Faust/Wagner) umkreisen und oft auch aphoristisch durchspielen kann – z.B. von Empedokles, der seinen Jüngern Lebewohl sagt und von dem nur noch eine Sandale nach seinem Sprung in den Ätna zeugt, über zu Buddha, der in den Bergen verschwindet und auch nur eine Sandale hinterlässt bis hin zum »unvergleichlichen Prestige des Lehrers in der jüdischen Tradition und Gemeinschaft. Daher auch die ständig wiederkehrende Ahnung, die Wittgenstein mürrisch überzeugend fand, dass der Jude eine Begabung für Studium und Erläuterung und nicht für ursprüngliche Schöpfung hat«.
In diesem Punkt möchte man dem Juden George Steiner denn doch widersprechen – im Hinblick auf das schöpferische Potenzial jüdischer Autoren, Künstler, Wissenschaftler und Philosophen in allen abendländischen Kulturen von Spinoza bis Bloch, von Proust bis Babel, von Liebermann bis Pollock oder von Freud bis Einstein. Hier hat der »Meister« George Steiner, der kommentierende und interpretierende »Schüler« der Texte, zu sehr an seine eigene Kunst der Auslegung gedacht – im Andenken an die ehrwürdige Orthodoxie der Bibel- & Talmudlektüre & -exegese der Heiligen Texte in der langen Geschichte des »Volks der Schrift«. Es sei »eine unvergleichliche Befriedigung, der Diener, der Kurier des Wesentlichen zu sein«, schreibt der weltliche Rebbe im Nachwort. Nicht ohne berechtigten Stolz fügt dieser große Rhetoriker in Klammern (also untergeordnet) noch hinzu: »Ich habe Studenten auf fünf Kontinenten« – ja: und Leser dort ebenso.
Titelangaben
George Steiner: Der Meister und seine Schüler
Essays. Aus dem Englischen von Martin Pfeiffer
C. Hanser Verlag, München 2004
222 Seiten, 21,50 Euro