Die Kinderbuchautorin Diane Broeckhoven schreibt ihren ersten Erwachsenenroman – ein ebenso wunderliches wie auch ein wunderbares Buch über ein Rentnerpaar. Von WOLFRAM SCHÜTTE
Wenn sie morgens noch im nachtwarmen Bett lag und der Duft des Kaffees sie erreichte, dann wußte Alice, daß der Tag mit Jules wieder werden würde wie alle, und das war gut so. Wer wie das Rentnerehepaar Alice & Jules Tag & Nacht auf engstem Raum zusammenlebt, schätzt Rituale der Wiederholung. Sie geben Sicherheit, sie sind das Korsett des Tages, in dem jeder & jedes seinen Platz, seine Zeit und seinen Sinn hat – es gab ja sonst keinen mehr, der außerhalb ihrer Zweisamkeit lag, in der sie gemeinsam auf das Ende warteten, an das sie jedoch nicht mehr dachten, wenn der Tag erst einmal damit angefangen hatte, daß Jules das Bett verlassen, sich angezogen und das Morgenfrühstück für sich und seine Frau zubereitet hatte. Es war Jules einzige Hausarbeit, er hatte sie sich erst mit ihrem gemeinsamen Rentnerdasein angewöhnt, und das hatte Alice glücklich gemacht – in ihrer ganz gewöhnlichen Ehe, die von der ewigen Wiederkehr des Gleichen bestimmt wurde und in der Jules, der ehemalige Bankangestellte, den Ton angab und sie ihm parierte.
Der Haustyrann ist tot
Es würde heute alles wieder so sein: Jules morgendliche Zeitungslektüre, die gemeinsame Überlegung, was man essen werde und einkaufen müsse usw. Über Nacht hatte es heftig geschneit, wenn Alice aus dem Fenster ihrer Wohnung im sechsten Stück eines Neubaus blickte, sah & hörte sie Bea, die drei Stockwerke unter ihnen wohnte, den Bürgersteig fegen. »Die ist immer nur am Ackern«, dachte Alice im Morgenmantel bei sich, als sie sich in die Küche begeben wollte, wo Jules den Tisch mit penibler Akkuratesse wie jeden Morgen gedeckt haben würde.
Aber Jules saß auf dem Sofa des Wohnzimmers und blickte durch das große Fenster auf den Schneefall. Es stimmte sie mild, daß er offenbar durch das Ereignis des Schneefalls von seinen Regeln abgewichen war – der Pedant als Romantiker? »Auf diese Weise bekam sie selbst unerwartet ein Stückchen Freiheit geschenkt. Die Pflicht rief sie noch nicht gleich.« Alice legte zärtlich ihre Hand auf sein schütteres Haar und setzte sich neben ihren Mann auf das Sofa. Er antwortete nicht, seine Hände »lagen auf den scharfen Bügelfalten der Hose«, seine Augen halb geschlossen. Jules war nämlich tot. «Doch zuvor hatte er noch seine Pflicht getan. Er hatte den Tisch gedeckt und Kaffe aufgesetzt.«
Es lebe die Freiheit
Mit dieser heimlich-unheimlichen Szene läßt die 1946 in Antwerpen geborene & dort lebende bisherige Kinderbuchautorin Diane Broeckhoven ihre Erzählung »Ein Tag mit Herrn Jules« beginnen. Sie ist ein literarisches Kammerspiel über Schutz & Zwang der Ehe, die Rituale des Alters, die Versäumnisse des Lebens und seine Verluste. Kein Kinderbuch mehr, eine Elegie für Erwachsene.
Was wird Alice mit dem »Tag danach« machen? Sie wird nicht den Sohn anrufen oder die Mitbewohnerin Bea von dem Todesfall unterrichten – und damit das Ritual der Beseitigung des Verschiedenen einläuten. Diese »unwürdige Greisin« nimmt sich die Freiheit, einen Tag mit dem dominanten Ehemann, der nun still dasitzt und langsam erkaltend sich in einen stummen, steinernen Gast verwandelt, in der nun für sie gewonnenen Freiheit zu verbringen, tränenlos.
Makaber? Nein: nur eine kleine Revolte – weniger gegen die Welt, als gegen die täglichen Rituale & selbst auferlegten Zwänge dieser Rentner-Ehe. Denn jetzt erst kann Alice dem Toten, den sie hasste & liebte, folgenlos beichten, wie sie diesen ersten & einzigen Mann ihres Lebens an sich gebunden hatte, als sie ahnte & dann wußte, daß er sich in eine Arbeitskollegin verliebt hatte und möglicherweise ausbrechen wollte. Jules hat aber nie erfahren, wie sie ihm die Fortdauer der außerehelichen Affäre vermasselt hat.
Der Preis jedoch, den sie dafür bis zu diesem Augenblick entrichtet hatte, war das in festgefügten Ritualen kasernierte gemeinsame Leben mit einem offenbar in keiner Hinsicht aufregenden Mann an ihrer Seite. Aber er blieb an ihrer Seite, wie sie an seiner. So könnte sie den Tag mit dem Toten verbringen, endlich einmal dominant – und keiner bemerkte es: ihr Todesritual…
Und das Leben geht weiter
Wenn es da nicht den autistischen Nachbarjungen David, den Sohn der alleinerziehenden Bea gäbe, der seit einiger Zeit pünktlich um 10 Uhr hochgefahren kommt und so schweigend wie verbissen mit »Herrn Jules« genau eine halbe Stunde lang Schach spielt. Noch ein Ritual, das Alices Tag bestimmte. In ihm trafen sich der Alte & der Junge, Alice war ausgeschlossen. Kann sie den Eindringling heute abweisen? Sie versucht es, aber es gelingt nicht, denn Bea bittet sie um ihre Hilfe, weil ihre Mutter im Schnee gestürzt ist und sie die schwer Verletzte besuchen muß. Also kommt David – wie alle die Morgende zuvor.
Damit wird die seltsame Erzählung spannend. Aber was sich aus dieser verflixt dramatischen und auch komischen Situation ergibt (erst recht, als die ahnungslose Bea, weil sie sich um ihre Mutter kümmern muß, die unerkannte Witwe bittet, den abweisend-autistischen David über Nacht bei sich in der Wohnung mit dem auf dem Sofa sitzenden Toten zu behalten) – das wird hier selbstverständlich weder angedeutet noch gar verraten.
Ganz einfach deshalb nicht, weil man die Eleganz und Zartheit, mit der Diane Broeckhoven sowohl die Vor- als nun auch die Nachgeschichte dieser Ehe in »Ein Tag mit Herrn Jules« vor unseren staunenden Leseraugen heraufbeschwört, denn doch gefälligst selber lesen, also entdecken und mitempfinden sollte. Es ist nämlich ein ebenso wunderliches wie auch ein wunderbares Buch, für dessen Heiterkeit ein Satz Davids spricht: »Der Schnee bleibt draußen, die Wärme ist drinnen«.
Titelangaben
Diane Broeckhoven: Ein Tag mit Herrn Jules
Aus dem Niederländischen von Isabel Hessel
C.H.Beck. 2005.
92 Seiten, Geb. 12.90 Euro
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