Und ewig lockt Tanger

Roman | Ari Behn: In der Wüste

Ari Behn schreibt kurze (aber nicht zu kurze) Sätze, verzichtet auf Schwulst und lässt bewusst Doppeldeutigkeiten und Humor zu. Er segelt hart am Wind der Beat-Generation, auf die auch ausführlich Bezug genommen wird. Von STEFAN HEUER

Behn - In der WuesteSchriftsteller werden oftmals als multiple Persönlichkeiten wahrgenommen – der Ruf eines Menschen mit (mindestens) zwei Gesichtern eilt ihnen voraus. Dass sich ihr Lebenswandel häufig vom Inhalt ihrer literarischen Ergüsse unterscheidet, wird bei kurzer Recherche oftmals deutlich.

Wem es nach einem extremen Beispiel gelüstet, dem sei ein Blick in die Vita des Autors Ari Behn empfohlen: Nach dem Erscheinen seines Debüts ›Von mir ist die Rede‹ machte er durch seine Heirat mit der norwegischen Prinzessin Märtha Louise, Schwester des Kronprinzen Haakon, von sich reden. Besonders vielseitig präsentiert sich Ari Behn auch bei der Bildersuche im Internet: zunächst in Gala mit Thronfolger auf dem Arm, einen Klick später mit zerrissenen Jeans und Tattoo.

Sein neues Buch ›In der Wüste‹ begleitet den jungen Norweger Andreas Aakerlid, der aufbricht, um seine in Burkina Faso arbeitende Freundin Selma zu besuchen, wobei er sich für eine unkonventionelle Reiseroute entscheidet: »Mit dem Flugzeug von London braucht man sieben Stunden, aber mit Bus und Lastwagen, Kamel und Jeep, durch Marokko, Mauretanien, Mali und weiter nach Burkina Faso dauert es vermutlich nicht weniger als zwei Monate.

An der Reiseroute gibt es nichts auszusetzen, ich kann es mir nicht anders vorstellen, als dass die Erlebnisse Schlange stehen, sowie ich die afrikanische Küste erreicht habe« – und ganz so lange muss er nicht einmal warten! Bereits in Madrid macht er die Bekanntschaft mit Antonio Valderon, einem reichen und extravaganten Lebemann, der dem jungen Reisenden als erste Kontaktaufnahme in den Hintern kneift und sich sodann als Reiseführer durch den Schwarzen Kontinent anbietet.

Andreas lehnt dankend ab, muss aber bald feststellen, dass sich sein neuer Bekannter nicht so leicht abschütteln lässt. Gemeinsam mit seinen beiden Begleiterinnen lädt er Andreas ein, in Tanger eine Party zu besuchen. Diesem ist der Mann deutlich zu aufdringlich, gleichzeitig ist er jedoch von Valderons Erfahrungen und Souveränität beeindruckt und willigt ein. Aus einem Abend werden einige Tage. Nach und nach wirft Andreas seine Zweifel über Bord und lässt seinem Abenteuersinn freien Lauf. Tanger fasziniert und ekelt ihn zugleich: Dekadenz und Armut, Irrsinn und Lebensfreude, Lustknaben und die dazugehörigen Europäer, die jedes Jahr nach Tanger kommen, um hier ausgiebigst zu kommen.

Er verfällt den Reizen der Stadt, findet Gefallen am dortigen Lebensgefühl, an Kif und Sex – der Wille, die Sahara zu durchqueren und zu seiner Freundin zu gelangen, ist noch immer vorhanden, doch er wird schwächer mit jeder Stunde. Schließlich, als er nach mehreren Tagen entschlossen ist, seine Reise fortzusetzen, ändert ein verwirrendes Telefonat mit seiner Freundin die Situation. Gemeinsam mit Valderon besteigt er den Zug nach Marrakesch, und auch dort gerät er in ein Geflecht aus Alkohol und Hitze, das in ein heftiges Techtelmechtel mit einer dänischen Reiseleiterin ausartet (inklusive Showdown in der Wüste).

Ari Behn schreibt kurze (aber nicht zu kurze) Sätze, verzichtet auf Schwulst und lässt bewusst Doppeldeutigkeiten und Humor zu. Er segelt hart am Wind der Beat-Generation, auf die auch ausführlich Bezug genommen wird (so residieren Andreas und Valderon in Tanger in eben dem Hotel, in dem Burroughs sein Naked Lunch geschrieben hat) – und auch Paul Bowles, in Tanger lebende Schriftsteller-Legende, wird an zahlreichen Stellen gewürdigt und nimmt aus unterschiedlichem Anlass an der Geschichte teil.

›In der Wüste‹ – eine bis zur letzten Seite spannende und sehr unterhaltsame Umsetzung der Redewendung »Der Weg ist das Ziel«.

| STEFAN HEUER

Titelangaben
Ari Behn: In der Wüste
München: btb-Verlag 2006
320 Seiten, 9,50 Euro

Ihre Meinung

Your email address will not be published.

Voriger Artikel

Trauer und Wut

Nächster Artikel

Die Blendung im Ohr

Weitere Artikel der Kategorie »Roman«

Auf nach Hellas!

Roman | Hanns-Josef Ortheil: Die Mittelmeerreise ›Die Mittelmeerreise‹ ist die letzte gemeinsame Erkundungsfahrt des jugendlichen Hanns-Josef Ortheil mit dem Vater. Dieses Seestück changiert zwischen heftigen Stürmen, bildungsbürgerlichen Bemühungen und einer starken Männerwelt. Erste Liebe ist auch im Spiel. So gerät die Tour zum elementaren Katalysator auf dem Weg zum Erwachsenwerden, zu Ortheils ganz persönlicher Odyssee. Von INGEBORG JAISER

Die Wut der Väter, die Melancholie der Mütter

Roman | Martin Becker: Die Arbeiter

Die Arbeiter rackern sich »den Arsch aus der Hose«, hoffen auf zehn Richtige im Lotto und kämpfen sich bis dahin mit reichlich Schnaps, Zigaretten und allzu fettem Essen durch die Mühsal der Tage. Mit seinem neuen Roman errichtet Martin Becker ein literarisches Denkmal für ein aussterbendes Milieu, eine scheinbar verschwundene Klasse, ungeschönt und ohne falsche Melancholie. Von INGEBORG JAISER

Bruderliebe

Roman | Jo Nesbø: Ihr Königreich

Gelegentlich platziert der norwegische Bestsellerautor Jo Nesbø zwischen die Bände seiner weltweit erfolgreichen Harry-Hole-Reihe zur Auflockerung einen Standalone. Ihr Königreich heißt der neueste und er erzählt die Geschichte der Brüder Carl und Roy Opgard, die, auf einem norwegischen Gebirgsbauernhof unter der Fuchtel eines unnachgiebigen Vaters aufgewachsen, nach 15-jähriger Trennung wieder ein Zusammenleben versuchen. Aber der Jüngere, Carl, hat in der Fremde nicht nur geheiratet, sondern auch Pläne im Gepäck, deren Verwirklichung den ganzen Ort reich machen soll. Und allgemach steuert das Verhältnis der beiden ungleichen Männer auf eine Katastrophe zu, deren Ursachen nicht nur in der Gegenwart liegen. Eine Rezension von DIETMAR JACOBSEN

Martilein und Jo

Roman | Zsuzsa Bánk: Schlafen werden wir später Zsuzsa Bánk ist alles andere als eine zeitgeistaffine Vielschreiberin. Jetzt ist ihr neuester Roman ›Schlafen werden wir später‹ erschienen. Von PETER MOHR

Ein Symbol für Freiheit, Flucht und Hoffnung

Roman | Dunya Mikhail: Das Vogel-Tattoo

Die Geschichte der zentralen Figur ihres neuen Romans über eine jesidische Familie im Nordirak, eine Jesidin namens Helen, deren Herkunftsland der Irak ist, basiert auf wahren Begebenheiten. Der Ende 2024 in deutscher Übersetzung erschienene Roman ›Das Vogel Tattoo‹ von Dunya Mikhail widmet sich den Themen Identität, Verlust und Hoffnung des jesidischen Volkes. Der Titel des Buches leitet sich von einer Liebesgeschichte zwischen Helen und Elias ab, seit dieser Zeit haben sie beide Vogel-Tattoos. Von DIETER KALTWASSER