/

Zigeuner, Minengesänge und Drogentod

Kulturbuch | Kersten Knipp: Flamenco

Knipp liefert eine umfassende Geschichte des Flamencos, nicht im Mindesten romantisch, aber dafür von hohem Unterhaltungswert. Er rechnet mit den Mythen und Legenden ab, die um den spanischen Tanz entstanden sind. Von EVA KARNOFSKY

Knipp: FlamencoDass er aus Spanien kommt, das weiß man noch, aber dann erschöpfen sich unsere Kenntnisse des Flamencos meist schon. Wann entstand er? Und warum? Und wer hat ihn eigentlich entwickelt? Antworten auf diese Fragen gibt der Romanist und Journalist Kersten Knipp in seinem Buch mit dem schlichten Titel Flamenco. Er zieht eine Linie von der Entstehung des Flamencos um 1830 im Umfeld der andalusischen Bohème bis zu den jüngsten Entwicklungen der Gegenwart.

Dabei kommt es offensichtlich darauf an, den Leser nicht nur zu informieren, sondern auch zu amüsieren, mit zahllosen Anekdoten und kleinen Geschichten: So zieht etwa der Sänger Antonio Chacón auf einem Esel durch die Lande und der bislang größte Star des Flamencos, José Monge Cruz alias Camarón de la Isla, stirbt eines tragischen Drogentodes. Ausführlich schildert Knipp die herbe Welt der sogenannten Cafés Cantantes, in denen ab 1860 die ersten Flamencosänger auftraten und sich vor einem kräftig alkoholisierten Publikum behaupten mussten.

Ein Kapitel ist dem Dichter Federico García Lorca gewidmet. Gemeinsam mit dem Komponisten Manuel de Falla veranstaltete er 1922 in Granada einen großen Flamenco-Wettbewerb. Im Schatten der Alhambra entwickelten die beiden großen spanischen Künstler ein romantisches Ideengut, das sie schließlich dazu antrieb, das erste internationale Flamenco-Festival zu organisieren.

Doch auch von den spanischen Bergwerken ist die Rede, in deren Umfeld ein Teil des Flamenco-Repertoires entstand, die Cantes de las minas (Minengesänge). Der sanfte Klang der Cantes de ida y vuelta (Gesänge vom Kommen und Gehen) stammt dagegen aus dem karibischen Raum – sozusagen eine Spätfolge des spanischen Kolonialismus, der sich damit auch im Flamenco wiederfindet. Ein weiteres Kapitel ist der Geschichte des Tanzes gewidmet.

Das Buch liest sich leicht, nicht nur dank der eingängigen Sprache, sondern auch, weil Knipp zahlreiche Legenden rund um den Flamenco gesammelt hat. Dennoch bewahrt der Autor immer eine gewisse Distanz dazu, da diese Legenden den Flamenco ausschließlich mit der Geschichte der Gitanos, der spanischen Zigeuner, verbinden und ihn als Ausdruck ihrer historisch bedingten Leidensgeschichte betrachten. Knipps Literaturrecherchen ergaben jedoch, dass der Flamenco im Wesentlichen jenem romantischen Geist zu verdanken ist, der im 19. Jahrhundert vor allem in Frankreich jenes exotische Spanienbild schuf, dessen Nachwirkungen – man denke etwa an Prosper Merimées Novelle Carmen – bis heute spürbar sind.

Noch immer verbinden sich mit dem Flamenco ausgesprochen romantische Vorstellungen. Gegen sie wendet sich Knipp, wenn er zeigt, wie sehr der Flamenco mit dem im 19. Jahrhundert sich ausbreitenden Kapitalismus verbunden war. Die Minenlieder sind nur ein Beleg dafür. Der Flamenco, so könnte man sagen, war eine frühe Form der globalen Unterhaltungsindustrie. Das klingt zwar nicht sonderlich romantisch, entspricht dafür aber den historischen Fakten.

| EVA KARNOFSKY

Titelangaben
Kersten Knipp: Flamenco
Berlin: Suhrkamp Verlag 2006
244 Seiten, 8,50 Euro
| Erwerben Sie dieses Buch portofrei bei Osiander

Ihre Meinung

Your email address will not be published.

Voriger Artikel

Ängste sind unteilbar

Nächster Artikel

Kein deutsches Wintermärchen

Weitere Artikel der Kategorie »Kulturbuch«

Rufer in der Wüste

Kulturbuch | Remo H. Largo: Wer bestimmt den Lernerfolg: Kind, Schule, Gesellschaft? Remo Largo, seines Zeichens renommierter Professor für Kinderheilkunde und Autor so bekannter Bücher wie Babyjahre, Schülerjahre und Jugendjahre hat eine Flugschrift herausgebracht. In Wer bestimmt den Lernerfolg hält er uns Eltern den Spiegel vor und plädiert einmal mehr für einen realistischen, liebevollen Umgang mit unseren Kindern. VIOLA STOCKER ließ sich gerne überzeugen.

Audrey Hepburn und das Little Black Dress

Kulturbuch | Chloe Fox: VOGUE: Little Black Dress Der Inhalt von Kleiderschränken hat sich in den vergangenen 100 Jahren sehr gewandelt, nur ein Kleidungsstück hat es geschafft, seinen Platz zu bewahren: das kleine Schwarze, das »Little Black Dress«. Aus dem Archiv der VOGUE eine kleine Sammlung dieser unverwechselbaren Modelle, vorgestellt von BARBARA WEGMANN

Unbekanntes Land

Kulturbuch | Thomas Knubben: Mesmer oder die Erkundung der dunklen Seite des Mondes Thomas Knubben analysiert in ›Mesmer oder die Erkundung der dunklen Seite des Mondes‹ die atemberaubende Karriere des Arztes und Förstersohns Franz Anton Mesmer (1734-1815). Im Zeitalter der Aufklärung machte er Furore in Wien und Paris und fand seinen Lebensinhalt im Seelenleben seiner Mitmenschen. VIOLA STOCKER lässt sich mitnehmen auf eine Reise, die Licht bringt ins Dunkel der Seele.

Gehen, um sich selbst zu finden

Kulturbuch | Norbert Parucha: Meditatives Wandern Wer beim Unterwegssein die ganze Konzentration auf das Erreichen des Zieles lenkt, geht möglicherweise sich selbst verloren. ›Meditatives Wandern‹ dagegen vermittelt das Wiedererlernen der Bewusstheit. Norbert Parucha hat dazu einen handlichen Wanderbegleiter mit anregenden Übungen, Texten und Impulsen verfasst. Von INGEBORG JAISER

Synaptische Turbulenzen

Kulturbuch | Olivia Laing: Zum Fluss

Immer wieder ›Zum Fluss‹ zieht es Olivia Laing. Ihre einwöchige Wanderung entlang der Ouse, von der Quelle bis zur Mündung, gibt Anlass zu geologischen und geographischen Erkundungen, zu poetischen, philosophischen und literarischen Betrachtungen. Ein ausschweifender, viele Sinne streifender Genuss für alle Freunde des »Nature Writing«. Zugleich ein sehr persönliches Buch, das dem Leser die Augen öffnet und die Sinne schärft. Von INGEBORG JAISER