/

Rhapsode einer untergegangenen Welt

Roman | Blaise Cendrars: Auf allen Meeren / Die Signatur des Feuers (Zum 50. Todestag)

Blaise Cendrars – Schriftsteller und Filmemacher, Weltenbummler und Lebenskünstler, Legionär und Bonvivant. In seinem Werk balanciert der Dichter zwischen Wirklichkeit und Fiktion, jongliert mit Anekdoten, Legenden, Erinnerungen, Bonmots, Klischees, beschwört Die Signatur des Feuers – und segelt Auf allen Meeren. Von HUBERT HOLZMANN

Blaise Cendrars ist ein Pseudonym, ein Künstlername, eine fiktive Gestalt. Mit bürgerlichem Namen heißt der ursprünglich im schweizerischen La Chaux-de-Fonds am 1.9.1887 geborene Dichter Frédéric Louis Sauser. Mit 16 Jahren bricht er mit seiner Familie, reißt von zu Hause aus. Er kommt nach Russland, wo er in St. Petersburg bei einem Goldschmied arbeitet und auch seine spätere Ehefrau Fela kennen lernt. Dann zieht es ihn in die Mandschurei und nach China. Erstmals kommt er 1910 nach Paris. Ein Jahr später kehrt er in seine Schweizer Heimat zurück und beginnt ein Medizinstudium an der Uni Bern, das er jedoch bald hinwirft.

Er schlägt sich mit Gelegenheitsarbeiten durch, ist Imker, Schausteller. Sein Getriebensein führt ihn nach New York: Die Eindrücke der Metropole, die Fremde, die Isoliertheit, das Verschwinden des Einzelnen in den Straßenschluchten verarbeitet er in seinem Gedicht Les Pâques à New York. Er wird es zum ersten Mal mit seinem Künstlernamen unterzeichnen: Blaise Cendrars steigt wie Phönix aus der Asche, »Cendres et braises. Glut und Asche.« – Wortspiel und Initialzündung für sein Schreiben?

Die »Remington« als Waffe des Legionärs?

Sein Werk umfasst etwa 40 Bände: zahlreiche Gedichte, Erzählungen, Reiseberichte, ein Romanfragment. In der meisterhaften, hoch gelobten deutschen Übersetzung von Gio Waeckerlin Induni erscheint es aktuell im Lenos Verlag Basel.

In seinen schriftstellerischen Arbeiten klingt immer wieder Autobiografisches an, allerdings verschwindet der Familienvater und bürgerliche Frédéric Louis Sauser völlig hinter dem Werk. Es ist der »blinde Passagier«, der als Schlüsselfigur für sein Werk dient: »Verlass deine Frau und dein Kind / Verlass deine Freundin verlass deinen Freund / Verlass die Geliebte verlass den Geliebten / Geh auf die Reise wenn du liebst« (aus dem Band Frachtbriefe). Cendrars Geschichten betonen die andauernde Veränderung, die scheinbar zusammenhanglose, bruchstückhafte Sammlung von Einzelberichten. Dies alles unter dem Vorzeichen spontaner Fabulierkunst.

Konstanten sind vielleicht die Hafenbars, der maßlose Lebensstil des Gourmets, die Trinkgelage mit »vielen Zechbrüdern, vor allem in Montparnasse, darunter Modigliani, der mitten auf der Fahrbahn Passagen aus der Göttlichen Komödie rezitierte«, die Leidenschaft für schöne Frauen, das Schwadronieren und Erfinden und der Hang zur Selbstüberschätzung: Auf seiner Heimreise von Brasilien trägt er einen Koffer voll von Geldscheinen mit sich, der Steward an Bord des Atlantikdampfers staunt nicht schlecht, als Cendrars ihm den Inhalt zeigt. »Gut, Auguste, wenn du Geld brauchst, bedien dich, aber gleich, hier, vor meinen Augen.«

Großspurig geht es weiter, am Fallreep des Schiffes nimmt er einen Jaguar in Empfang, Erinnerung an seine Jagdausflüge. An anderer Stelle betritt er in den Garten seiner Kindheit. Es ist kein gewöhnlicher Ort, sondern jene geheimnisvolle, dämonische Stelle, an dem sich Vergils Grab befindet. Alles ist Superlativ. Was er jedoch immer aufs Neue verspielt. Essentiell für Cendrars ist anderes: Seine Leidenschaft für Bücher. Das Lesen – »und das ist der Grund, warum ich durch die Welt irre… Wir leben alle in der Welt der Bilder… Die einzige Wirklichkeit.«

Versunkenes Europa

Konstante sind auch: die Suche nach der verlorenen Kindheit, der Konflikt mit dem Vater, das Schwanken zwischen Extremen, zwischen praller Lebenslust und Nichtigkeit des Materiellen, zwischen Vitalität und Verwundbarkeit. Cendrars lässt sich von Sprache verzaubern, er erzählt raffiniert, temporeich, zielgerichtet: Eines Morgens bricht er von Paris auf, fährt mit seinem Automobil auf der »route bleue« Richtung Süden und hält erst wieder an, als er auf einem Geröllweg vor einem Gasthaus zum Stehen kommt, in La Redonne: »Hier bin ich, rief ich, die Tür aufstoßend. Ich komme aus Paris. Ich möchte zu Abend essen und ein Zimmer haben.« Dort wird er sein Schloss und Versteck L’Escayrol finden, von dem aus er einen gigantischen Blick über die Bucht von Marseille hat.

Handlungsstringenz und Erzählfluss werden immer wieder unterbrochen. Einfälle, Kleinigkeiten, Geschichtliches laden zum Verweilen ein. Cendrars plaudert manche »Marseiller Geheimnisse« aus oder gerät über die Speisenfolge »chez Félix« ins Schwärmen. – Versunkene Welt! Henry Miller empfiehlt in The Books in My Life: »Read him! I say. Read him, even if at the age of sixty you have to begin to learn French: Read him in French, not in English. Read him before it is too late, for it is doubtful if France will ever again produce a Cendrars.«

| HUBERT HOLZMANN

Titelangaben
Blaise Cendrars: Auf allen Meeren
Aus dem Französischen von Giò Waeckerlin Induni
Basel: Lenos 1998
552 Seiten. 23,95 Euro
| Erwerben Sie diesen Band portofrei bei Osiander

Blaise Cendrars: Die Signatur des Feuers
Aus dem Französischen von Giò Waeckerlin Induni
Basel: Lenos 2000
500 Seiten. 23,95 Euro
| Erwerben Sie diesen Band portofrei bei Osiander

Ihre Meinung

Your email address will not be published.

Voriger Artikel

LOL sprach Zarathustra

Nächster Artikel

Pamphlet im besten Sinne

Weitere Artikel der Kategorie »Menschen«

The Search For A Positive Truth: An Interview With MANOID

Music | Bittles’ Magazine: The music column from the end of the world Every so often a record comes along which makes you stop what you are doing, prick up your ears, and pay rapt attention. One such album is the thoroughly excellent Truth by fast rising Polish producer MANOID. Out now on the always fresh Hafendisko imprint, Truth is a record which only needs a few moments to convince you that you and it are going to be good friends. By JOHN BITTLES

Politisch nicht opportun

Menschen | Wolfgang Held: Ich erinnere mich Bevor man Wirklichkeit erkennt, muss man den Informationsmüll beiseite räumen, den Mainstream täglich auswirft, und es ist nicht bloß Müll, es ist Manipulation, es ist Täuschung, wer findet sich da zurecht, oh weh, Ende Gelände. Wir arbeiten die Dinge auf, so nennen wir das, wir bahnen uns einen Weg durch dichtesten Nebel, überall herrscht »schlohweißer Tag« (Tamara Danz). Von WOLF SENFF

Der passende Held für jeden

Kinderbuch | Maria Isabel Sánchez Vegara: Little People, BIG DREAMS

Die Reihe ›Little People, BIG DREAMS‹ ist längst bei über 100 Titeln angekommen mit ganz unterschiedlichen Menschen, die in den verschiedensten Bereichen Großes geleistet haben. Auch die neuen Biografien von fünf Männern findet ANDREA WANNER eine großartige Auswahl, gerade weil sie so unterschiedlich sind.

High On Apfelwein Once Again

Music | Bittles’ Magazine: The music column from the end of the world The thing about house music is that you can have all the technical expertise in the world yet only make songs which are tepid and limp. Without heart and soul any electronic track is nothing more than a succession of bleeps and beats. Two people who understand this concept all too well are Fabrizio Mammarella and Phillip Lauer. By JOHN BITTLES

Der Kampf mit dem Schreiben ist vorbei

Menschen | Zum Tod des großen amerikanischen Schriftstellers Philip Roth Er war ein Monument der Weltliteratur, gewaltig und mit reichlich Ecken und Kanten, ein Provokateur und Einmischer mit substanzieller Stimme – ein unübersehbarer Monolith. Alljährlich wurde der amerikanische Schriftsteller Philip Roth im Vorfeld der Nobelpreisbekanntgabe als heißer Kandidat gehandelt – zweimal hatte er den National Book Award (u.a. 1959 für seinen Erstling ›Goodbye Columbus‹), dreimal den PEN-Faulkner-Preis und 1998 für ›Amerikanisches Idyll‹ den Pulitzerpreis erhalten. Schon vor sechs Jahren hatte sich Roth von der literarischen Bühne verabschiedet. »Der Kampf mit dem Schreiben ist vorbei«, hatte er auf einen Zettel geschrieben