Menschen | Kunst: Interview mit Timo Dillner (Teil I)
Timo Dillner ist Künstler. Und der Meinung, die ewige Frage, was als Kunst gelte und was nicht, verdiene endlich eine klare Antwort. Im ersten Teil unseres Interviews mit dem Künstler fragt FLORIAN STURM nach dem Wesen der Kunst.
Herr Dillner, was ist Kunst?Timo Dillner: In meinen Augen ist es der wunderbarste und kostbarste Aspekt der menschlichen Wirksamkeit. Von der Landschaftsgestaltung und Architektur bis hinauf zur Musik vermag die Kunst, die Seele zu Schwingungen anzuregen und im menschlichen Gemüt Resonanzen zu erzeugen. Die auf diese Schwingungen modulierten Botschaften geben der Kunst das Potenzial eines Werkzeugs oder gar einer Waffe. Vielleicht auch dies eine Bedeutung des Spruches »Die Feder ist mächtiger als das Schwert.«
Sie sind der Meinung, Kunst müsse definiert werden. Gab es dazu nicht schon unzählige Versuche, von Platon und Kant über Oscar Wilde und Leo Tolstoi bis hin zu Picasso?
Kunst ist zweifellos eine Sache, die sich mit der Zeit bewegt und auch entwickelt. Ich weiß, dass sich ein solches Ding einer generellen und ewig allgemeingültigen Definition entzieht. Allerdings folgt daraus nicht, dass auch der Versuch einer Definition für einen bestimmten Zeitabschnitt vergeblich bleiben muss. Platon und auch noch Kant und Schopenhauer näherten sich der Kunst zum Beispiel über den Begriff der Schönheit. Was – auf unser heutiges Kunstverständnis übertragen – als gültiges Kriterium nur noch schwer nachvollziehbar ist. Doch selbst in einer Periode, in der Schönheit und Kunst Begriffe waren, die ohne einander nicht auskamen, blieben die Bemühungen, Kunst auf dieser Basis zu definieren, erfolglos.
Und so ist es auch mit aktuelleren und zeitgenössischen Versuchen, Kunst zu definieren: Was immer von einer solchen Definition beschrieben wird, meint neben Kunst regelmäßig auch eine Menge anderer und von Kunst ganz verschiedener Dinge. Das beginnt bei der lapidaren Aussage »Kunst ist, was mir gefällt.« Da mir ein Rembrandt gefällt, scheint die Beschreibung zu stimmen. Wenn es mir nun aber gefällt, mich nachmittags eine viertel Stunde auf die Wiese zu legen und in die Wolken zu schauen, ist das Kriterium »gefällt mir« zur Charakterisierung von Kunst nicht mehr zu gebrauchen.
Wie funktioniert es Ihrer Ansicht nach also besser?
Ich habe einmal gehört, Kunst sei die optimale Umsetzung geistiger Prozesse. Das klang überzeugend, bis mir eine Unmenge geistiger Prozesse einfiel, die beim besten Willen keine Kunst sind. Schließlich beruht auch die Entscheidung, den Gang zum Finanzamt nicht weiter aufzuschieben, auf einem geistigen Prozess, der optimal umgesetzt werden kann. Von den zahllosen Kunstdefinitionen, die lediglich persönliche Meinungen verkünden, ganz zu schweigen.
Deshalb habe ich mir – vielleicht als Erster – die Aufgabe gestellt, Kunst auf eine Art und Weise zu beschreiben, die nicht nur alles Kunst-Sein umfasst, sondern gleichzeitig alles Nicht-Kunst-Sein ausschließt. Ich glaube nämlich, dass es heutzutage viel wichtiger ist, sagen und begründen zu können, was keine Kunst ist, als im Rausch einer imaginären Freiheit immer wieder neuen Lebensäußerungen das Prädikat »Kunst« anzudichten.
Und wie lautet Ihre Definition von Kunst beziehungsweise Nicht-Kunst?
Kunst ist das zielgerichtet auf ein Publikum wirkende Ergebnis kreativen Wollens und Könnens selbstbewusster Individuen. Dieser letzte Punkt ist besonders wichtig: Er bedeutet, dass weder die Natur selbst, keine Tiere noch Maschinen in der Lage sind, Kunst zu machen. Wenn es so wäre, dann wäre nämlich jede Naturerscheinung, jede Tat eines Affen, jede Fließbandfertigung Kunst. Der primäre Antrag Kunst oder nicht Kunst muss vom Künstler gestellt werden. Das ist elementar. Alles andere ist Willkür. Daraus folgt, dass Kunst ausschließlich im Zusammenwirken der Elemente Persönlichkeit, Wahrnehmbarkeit, Botschaft, Wissenschaft, Experiment und Therapie entsteht.
Mit anderen Worten: Jeder Mensch, der etwas her-, dar- oder vorstellt, damit eine Botschaft verbindet, dieses gekonnt und originell tut, um auf ein mögliches Publikum einzuwirken, macht – und zwar zwangsläufig – Kunst. Je anerkannter der Mensch in seinem Tun und Sein, je wahrnehmbarer das Vollbrachte, je bedeutsamer die Botschaft, je besser die Realisierung, je innovativer der Inhalt, je nachhaltiger die Wirkung, umso wertvoller ist das Produkt als Kunst.
Sie sprechen von »gekonnt und originell«. Auch Ihre Definition beinhaltet also stark subjektive Elemente.
Selbstverständlich. Was wäre Kunst ohne Subjektivität. Wenn ich die Forderung aufstelle, Kunst müsse aus den sechs Elementen bestehen, behält dennoch jedes dieser Elemente ein nahezu grenzenloses Spektrum an Freiheit. Der springende Punkt ist, dass Kunst – um wirklich Kunst zu sein – auf keines dieser Elemente verzichten darf. Ein schöpferisches Werk ohne eine Botschaft zum Beispiel ist ein Stück Dekoration. Das kann ein Meisterwerk sein, keine Frage. Aber kein Kunstwerk.
die welt am abgrund –
ist das nicht
seit anbeginn
alltäglich‘ phänomen?
stets dräut und droht es
und versagt
und war zu jeder zeit
noch nie so unbequem.
schon immer häuften
sich die zeichen,
schon immer war,
das auszuhalten, schwer,
schon immer beugten sich
die armen vor den reichen,
und jugend stört‘
moral und das gehör.
wen wundert’s da, wenn
die empfindlichkeiten schwinden
und wir am tiefsten abgrund
uns recht
behaglich finden?
Timo Dillner
Was unterscheidet Ihre Definition von anderen?
Sie ist die erste Kunstdefinition, die ausschließlich auf Kunst zutrifft. Sie hilft, um Kunst von Nicht-Kunst zu unterscheiden. Wir sind es gewohnt, alles als Kunst zu akzeptieren, was uns als Kunst vorgestellt wird. Wir mögen es oder mögen es nicht; sind interessiert oder uninteressiert; gehen ins Museum und schauen es uns an oder bleiben lieber zu Hause. Man beäugt sich die absurdesten Schöpfungen mit nickenden Köpfen oder zuckenden Schultern und glaubt jenen, die behaupten, sie wüssten, was daran Kunst ist – ohne sie zu einem konkreten Beweis zwingen zu können.
Die Fachleute »wissen« es so selbstverständlich, als sei ihnen dieses Wissen von allerhöchster Stelle implantiert: Der König ist nicht nackt. Nie. So nackt er auch ist. Er kann gar nicht nackt sein, und deshalb ist jeder, der behauptet, er sei es, ein Lügner oder ein Dummkopf. Bei aller künstlerischen Freiheit hat, was die Kunst betrifft, niemand mehr die Freiheit, »nein« zu sagen. Meine Definition erobert der Kunst diese Freiheit zurück.
Mussten Sie sich für Ihren Definitionsversuch auch gegen Kritiker erwehren?
Natürlich, und ich muss es immer noch. Wobei die Kritik vonseiten der Laien viel massiver ist als die Kritik von Fachleuten, die sich auf eine ernsthafte Diskussion, die ihre Daseinsberechtigung infrage stellen könnte, gar nicht erst einlassen wollen.
Wie erklären Sie sich das?
Der Besucher einer Ausstellung moderner Kunst hat nicht die geringste Ahnung, ob der Heizkörper an der Wand ein unbezahlbares Kunstwerk ist oder eben nur ein Heizkörper. Diese Ahnungslosigkeit ist gewollt, und sie kann ausschließlich durch die Stellungnahme von Fachleuten erhellt werden. Hier wurde ein im wahrsten Sinne des Wortes »künstliches« Wissensmonopol geschaffen. Also eine Machtstellung. Wer eine solche Stellung innehat, freut sich nicht über eine Definition, die ihn dazu zwänge, auf Teile dieser Macht zu verzichten, indem sie jedem Ausstellungsbesucher ohne weitere Hilfe verrät, was Kunst ist und was nicht.
Bezeichnenderweise werde ich von beiden Seiten weniger wegen des Inhalts meiner Definition kritisiert, als vielmehr überhaupt wegen meiner Absicht, Kunst zu definieren. Jeder darf sagen, was Kunst für ihn ist. Aber von der Kunst an sich soll man gefälligst die Finger lassen. Den Laien – und damit meine ich sowohl Betrachter als auch Schöpfer – ist die Behauptung von der Freiheit der Kunst ein Zeichen dafür, dass Freiheit irgendwie und irgendwo trotz aller gegenteiligen Beweise doch möglich ist. In einem Leben und einer Welt voller Beschränkungen und Bestimmungen klammert man sich an die Illusion, wenigstens in der Kunst könne man diese Freiheit noch finden. Dafür nimmt auch der Nicht-Fachmann John Cages 3’44‘ oder Rauschenbergs weiße Rechtecke in Kauf.
Den Profis – Sachverständige, Galeristen oder Kunstwissenschaftler – bedeutet die Freiheit der Kunst ihre ganz persönliche Freiheit, nach Gutdünken zu schalten und zu walten. Das lässt sich niemand gerne nehmen.
Aber ich kann ehrlich sagen, dass ich mich über Kritik freue, denn bisher hat jede einzelne meine Arbeit an dieser Definition ein Stück vorangebracht.
| FLORIAN STURM
| Fotos/Abbildungen: TIMO DILLNER
| Titelfoto: ELIAS DILLNER
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| Teil II des Interviews in TITEL kulturmagazin
Die Definition -Kunst – wurde in dem Artikel, Interview mit Herrn Dillner, für uns ganz wunderbar vorgestellt. Er zeigt, wie viele Facetten von Kunst angesprochen und beleuchtet werden müssen, damit überhaupt ein Überblick über den Begriff – Kunst- erreicht werden kann.
Lieber Timo Dillner, ach, ja, wäre es doch so einfach…