/

Ein interessanter Mann

Menschen | Roman | Neuer Brunetti-Roman zum 75. Geburtstag von Donna Leon am 28. September*

Es gibt literarische Figuren, die bekannter sind als ihre Schöpfer. Das gilt für Georges Simenons Kommissar Maigret, für Agatha Christies Miss Marple, für Bella Block aus der Feder von Doris Gercke, für den Detektiv Wilsberg von Jürgen Kehrer und ganz sicher auch für Donna Leons Romanprotagonisten Guido Brunetti. Von PETER MOHR

Donna Leon - Stille Wasser26 Kriminalromane um den eigenbrötlerischen Kriminalkommissar aus Venedig sind seit 1992 erschienen, und viele von ihnen standen (auch dank der Verfilmungen) lange auf den Bestsellerlisten.

»Er ist ein interessanter Mann. Er ist intellektuell und auch emotional interessant. Aber er ist ein ganz normaler Mann. Ich nehme an, es gibt viele Männer wie Brunetti, die intelligent und sensibel sind, die ihre Familie lieben und das Bedürfnis haben, ihren Job gut zu machen«, befindet Donna Leon über ihre Hauptfigur.

Brunetti ist aber nicht nur der Kommissar, der darunter leidet, das Böse nicht aus der Welt schaffen zu können; Brunetti ist stets auch der Familienvater und Ehemann. Seine Frau Paola, die aus einer der ältesten Familien Venedigs stammt, arbeitet als Professorin für englische Literatur (ähnlich wie Donna Leon selbst) und wirkt bisweilen mit ihrem aufbrausenden Temperament und ihrer leidenschaftlichen Diskussionswut wie ein leibhaftiges Relikt der 68er-Bewegung. Ihre heranwachsenden Kinder Raffaele und Chiara stehen oft hilflos zwischen den elterlichen »Fronten«.

Das Nebeneinander von Kriminalfällen und der Einblick in Brunettis Familienleben – das ganze eingebettet in das malerische Flair Venedigs: Dieses Erfolgskonzept von Donna Leon scheint sich zu einem Dauerbrenner zu entwickeln.

Donna Leon, die heute* vor 75 Jahren in Montclair im US-Bundesstaat New Jersey geboren wurde, arbeitete nach dem Studium als Reiseführerin, Werbetexterin und Dozentin für Englisch und englische Literatur, ehe sich seit den frühen 90er Jahren ganz der Literatur widmete. In ihrer Freizeit reist die Opernliebhaberin quer durch Europa und verpasst kaum eine Händel-Inszenierung. In ihrem frühen Roman ›Aqua Alta‹ rahmte eine Händel-Arie ein Treffen Brunettis mit einem mysteriösen Mann in einem riesigen Palast ein.

In Venedig, wo Donna Leon seit vielen Jahren lebt, gibt es mittlerweile Stadtpläne, auf denen die Handlungsschauplätze ihrer Romane extra ausgewiesen sind. »Weil Venedig so außergewöhnlich schön ist, glauben die Menschen wahrscheinlich unbewusst, dass diese Stadt in jeder Hinsicht etwas Besonderes sein müsse«, erklärte Donna Leon ihren Kritikern, die ihr ein undifferenziertes und stark überzeichnetes Italienbild vorwerfen. Korruption und Vetternwirtschaft sind in fast allen Romanen tragende Handlungssäulen.

Als Kontrast dazu preist Donna Leon in Handlungsnebensträngen auch immer wieder das Dolce Vita, die italienische Küche, die exzellenten Weine und den etwas lockereren Lebensstil. Dennoch hat es die Autorin bisher untersagt, dass italienische Übersetzungen ihrer Werke erscheinen.

Im jüngsten Roman will sich Brunetti vor den Toren Venedigs von einem erlittenen Schwächeanfall erholen. Doch er gerät während seiner »Auszeit« direkt in einen neuen Fall. Er lernt den betagten Imker Davide Cassati kennen, der sich Gedanken über ein unerklärliches Bienensterben macht. Als Davide nach einem Unwetter plötzlich spurlos verschwindet, fragen wir uns als Leser (gemeinsam mit Brunetti), was für eine Rolle spielen die Bodenproben, die der Imker genommen hat? Und woher stammen Davides schlimme Narben?

Wieder einmal schafft es Donna Leon, ihre Leser auf äußerst spannende Weise zu unterhalten und viele (falsche) Fährten zu legen, und wieder bleiben am Ende viele Fragen offen. Die Welt ist noch nicht gerettet, das Böse noch nicht endgültig besiegt. Guido Brunetti wird weiter arbeiten müssen, und die Leser dürfen sich schon auf seinen nächsten Fall freuen.

| PETER MOHR

Titelangaben
Donna Leon: Stilles Wasser
Aus dem Amerikanischen von Werner Schmitz
Zürich: Diogenes Verlag 2017
343 Seiten, 24 Euro
| Erwerben Sie dieses Buch portofrei bei Osiander

Reinschauen
| Leseprobe
| Der kosmopolitische Charme des Commissario Brunetti – in TITEL kulturmagazin

Ihre Meinung

Your email address will not be published.

Voriger Artikel

Nathan Who?

Nächster Artikel

Angst als Chance zur Liebe und Integration

Weitere Artikel der Kategorie »Krimi«

Sich dem Tod entgegenstellen

Roman | Oliver Bottini: Im weißen Kreis. Ein Fall für Louise Boní Louise Boní ist wieder da. Das ist eigentlich ein Grund zur Freude. Denn die Freiburger Polizistin ist eine der interessantesten Gestalten im deutschsprachigen Krimi unserer Tage. Und ihr Autor einer der feinsten Stilisten, die man in der Thrillerecke finden kann. Doch abgesehen von der Tatsache, dass Im weißen Kreis für Boní-Einsteiger ein paar unüberwindbare Verständnishürden enthält, hat Bottini diesmal auch ein bisschen zu viel gewollt. Von DIETMAR JACOBSEN

Big trouble in little Lawrence

Roman | Sara Paretsky: Altlasten

V.I. Warshawski heißt die Detektivin, die die US-amerikanische Autorin Sara Paretsky seit 1983 in bisher 19 Romanen auftreten ließ. Altlasten ist ihr 18. Abenteuer. Diesmal zieht es die Großstädterin in die Provinz des Mittleren Westens. Von DIETMAR JACOBSEN

Zeit der Reue

Roman | Arnaldur Indriðason: Tiefe Schluchten

Zum dritten Mal macht sich Arnaldur Indriðasons pensionierter Polizist Konráð auf die Suche nach einem verschwundenen Menschen. Wie in den beiden Vorgängerromanen der Reihe - Verborgen im Gletscher (2017, deutsch 2019) und Das Mädchen an der Brücke (2018, deutsch 2020) – wird er auch diesmal von seiner Ex-Kollegin Marta unterstützt. Die ist meist wenig begeistert, wenn sich Konráð in ihre Arbeit einmischt. Doch weil sie diesmal am Schauplatz eines Mordes einen Zettel mit seiner Telefonnummer findet, versucht sie natürlich herauszufinden, was dahintersteckt, ohne zu ahnen, in welche Tragödie ihr Anruf sie und ihren ehemaligen Kollegen verwickelt. Von DIETMAR JACOBSEN

Ein altes Verbrechen

Roman | Håkan Nesser: Der Verein der Linkshänder

Nachdem der Münchner Friedrich Ani in seinem letzten Roman ›All die unbewohnten Zimmer‹ schon auf Teamarbeit setzte, lässt nun auch Schwedens Krimi-Altmeister Håkan Nesser seine beiden bekanntesten Serienhelden zusammen ermitteln. In ›Der Verein der Linkshänder‹ versuchen sich Ex-Kommissar Van Veeteren – zehn Auftritte zwischen 1993 und 2003 – und der etwas jüngere Gunnar Barbarotti – fünf Auftritte zwischen 2006 und 2012 – an einem Fall, der eigentlich längst geklärt schien und zu den Akten gelegt war. Aber der Mann, den man 1991 für den flüchtigen Mörder von vier Personen hielt, taucht 20 Jahre später plötzlich wieder auf - als unweit des Tatorts vergrabene Leiche. Von DIETMAR JACOBSEN

Am unteren Ende der Fahnenstange

Film | Im TV: TATORT – 903 Kopfgeld (NDR), 9. März Na toll. Wir kennen keine Kompromisse. »Du hast drei meiner Leute getötet. Und meinen Bruder zum Krüppel geschossen.« – »Hinsetzen. Klappe halten … Schnauze. [Kommissar stößt den Kopf des Vorredners mehrfach brutal auf die Tischplatte.] Ich wollte das nur klarstellen … Ist nichts passiert, er ist nur hingefallen.« Das ist der allerneueste O-Ton beim TATORT, kein Erbarmen mit nix, Steinzeit relaunched. Von WOLF SENFF