/

Erregungen, Kampagnen, Polemiken

Stefan Volk: Skandalfilme. Cineastische Aufreger gestern und heute

Durch Skandalfilme von Stefan Volk fühlt sich MANFRED WIENINGER gut informiert und an die Kindheit seiner Mutter erinnert.

Skandalfilme1951 hat sich meine damals knapp 13-jährige Mutter heimlich für einen Nachmittag lang ein ›erwachsenes‹ Kleid ihrer Mutter angeeignet, ebenso wie Stöckelschuhe und Lippenstift, um damit älter wirkend gemeinsam mit einer gleichaltrigen Freundin einen sogenannten Skandalfilm der damaligen Zeit zu sehen, der für Jugendliche unter 16 Jahren strikt verboten war: Sie tanzte nur einen Sommer – Ein uns heute sehr altmodisch anmutendes, skandinavisches Liebesdrama, in dem in einer Szene einen Moment lang die nackten Oberkörper eines in einem Teich badenden Liebespaares zu sehen sind.

Das Vorhaben meiner Mutter scheiterte damals übrigens am unerbittlichen Billeteur des Provinzkinos ihrer Weinviertler Heimatstadt.

Cineastische Provokationen

Überblickt man mithilfe des vorliegenden Buches von Stefan Volk die Filmgeschichte von den Anfängen bis dato, so haben vor allem diejenigen Filme Skandal gemacht, in den es im Kontext der jeweiligen Zeit um das Zeigen des Bruches sexueller Tabus geht. Das beginnt beim ersten Kuss der Filmgeschichte (in einen Kurzfilm von Thomas Alva Edison 1896) und endete beileibe nicht bei Basic Instinct – für die Bild-Zeitung 1992 der »schweinischste Film aller Zeiten«. Die öffentliche Erregung war und ist also tatsächlich meist eine solche.

Viel seltener ist es dagegen vorgekommen, das Filme wegen ihrer politischen oder religiösen Botschaften von bestimmten gesellschaftlichen Gruppierungen angegriffen und skandalisiert worden sind. Das reicht von Goebbels erfolgreicher Kampagne gegen Im Westen nichts Neues bis hin zu den kirchenoffiziellen Polemiken gegen Martin Scorseses Meisterwerk Die letzte Versuchung Christi.

Penibel und kenntnisreich

Stefan Volk hat über all diese und noch viele andere Erregungen ein sehr unerregtes, sprich sehr ruhiges und informatives Buch geschrieben, das die Lektüre wirklich wert ist. Die Information erstreckt sich nicht nur auf das penible Nachzeichnen der diversen Skandalisierungskampagnen, sondern auch die Filme selbst, die einst so viel Staub aufgewirbelt haben, werden kenntnisreich vorgestellt. Einziger, kleinwinziger Minuspunkt: Für ein cineastisches Filmbuch hätte ich mir mehr und größere Szenenfotos gewünscht, aber das ist für die Verlage wohl auch immer eine Preisfrage.

Eine Auswahl der besprochenen Filme
Anders als die Anderen (1919, Richard Oswald) | Das Goldene Zeitalter (1930, Luis Buñuel) | Im Westen nichts Neues (1930, Lewis Milestone) | Ekstase (1933, Gustav Machatý) | Die Sünderin (1950, Willi Forst) | Die Zeit mit Monika (1953, Ingmar Bergman) | Peeping Tom (1959, Michael Powell) | Das Schweigen (1963, Ingmar Bergman) | Spur der Steine (1966, Frank Beyer) | O.K. (1970, Michael Verhoeven) | Nicht der Homosexuelle ist pervers, sondern die Situation, in der er lebt (1971, Rosa von Praunheim) | Salò oder die 120 Tage von Sodom (1975, Pier Paolo Pasolini) | Im Reich der Sinne (1976, Nagisa Oshima) | Die Konsequenz (1977, Wolfgang Petersen) | Das Gespenst (1982, Herbert Achternbusch) | Maria und Joseph (1985, Jean-Luc Godard) | Die letzte Versuchung Christi (1988, Martin Scorsese) | Basic Instinct (1992, Paul Verhoeven) | Kids (1995, Larry Clark) Funny Games (1997, Michael Haneke) | Lolita (1997, Adrian Lyne) | Idioten (1998, Lars von Trier) | Baise-moi (2000, Virginie Despentes) | Die Passion Christi (2004, Mel Gibson) | Tal der Wölfe (2005, Serdar Akar)

| MANFRED WIENINGER

Titelangaben
Stefan Volk: Skandalfilme. Cineastische Aufreger gestern und heute
Marburg: Schüren 2011
320 Seiten. 24,90 Euro (eBook 17,99 Euro)

Reinschauen
Webseite: http://www.skandalfilm.net

Ihre Meinung

Your email address will not be published.

Voriger Artikel

Von der Sehnsucht der Kinder nach einem normalen Leben

Nächster Artikel

Helfen schwer gemacht

Weitere Artikel der Kategorie »Film«

Celui qu’on attendait

Film | Filmfestival Mannheim-Heidelberg. Lost in Armenia von Serge Avedikian »Was ist dieses ›Internationale Filmfestival Mannheim-Heidelberg‹ eigentlich? Und zwar unter den über tausend internationalen Filmfestivals, die es gibt auf der Welt, Hundert davon allein in Deutschland oder in Frankreich, Italien hat auch nicht eben wenige, Asien gründet sie im Jahrestakt. Wobei das Schöne daran ist: sie wollen alle dieselben Filme haben, nämlich die, die gerade fertig geworden und besonders gut gelungen sind.«

Wie die Welt sich dreht

Film | Im Kino: The Grandmaster (Wong Kar-Wai) Vielleicht war das bereits ein frühes Signal für das Bröckeln des Westens und seiner Lebensweise, man weiß es nicht. Man soll seine Texte nicht mit »vielleicht« beginnen, vielleicht ist das ein Signal dafür, dass auch die Texte bröckeln, wer weiß das schon, es bröckelt und zittert, wo niemand es vermutet hätte: bei den Banken, der Gesundheitsvorsorge, den Werksverträgen usw. usf., und die Lernäische Schlange reckt ihre Köpfe, jene Hydra, die wir bei Homer endgelagert wähnten, als Merkel ist sie uns auferstanden, Europa liegt in Schockstarre. Von WOLF SENFF

Zeit der Wunder

Film | DVD: Das Wort (Arthaus Retrospektive) Ingmar Bergman und Andrej Tarkowski sind selbst in unseren geschichtsvergessenen Zeiten wenigstens dem Namen nach noch im öffentlichen Bewusstsein. Für Carl Theodor Dreyer gilt das nicht. Einer der bedeutendsten Regisseure der Filmgeschichte ist praktisch unbekannt, und selbst Liebhaber der Filmkunst wissen in der Regel allenfalls, dass Dreyer in seiner Passion de Jeanne d’Arc fast ausschließlich mit Großaufnahmen gearbeitet hat. Von THOMAS ROTHSCHILD

Ein Dokument des Exils

Film | Auf DVD: Shadows in Paradise. Hitler’s Exiles in Hollywood Es gibt eine bemerkenswerte Diskrepanz zwischen der verlautbarten Empfindlichkeit, mit der man in Deutschland – zuletzt im Zusammenhang mit dem skandalisierten »Gedicht« von Günter Grass – auf Kritik an Israel reagiert, und der historischen Tatsache, dass man nach 1945 in Deutschland ebenso wenig wie in Österreich daran interessiert war oder gar dazu beigetragen hätte, dass die von den Nationalsozialisten ins Exil gejagten Juden, die den Holocaust überlebt hatten, in ihre Heimat zurückkehren. Man wollte sie, um es unverblümt zu sagen, hier nicht haben. Von THOMAS ROTHSCHILD

Krawall und Rettung

Film | Neu im Kino: Transformers 5 – The Last Knight Es gibt mittlerweile so viele Gewalt-Action-Filme für die Teenager-Zielgruppe, dass man sich fragt, warum sie immer noch Milliarden einspielen, wenn sie sich doch alle ähnlich sind. Geht es allein um Action und CGI-Effekte? Oder gibt es tatsächlich eine Message darin? Das ›Transformers 5‹-Poster ist übertitelt mit »Hinterfrage deine Helden«! ANNA NOAH hinterfragt die Absicht des Regisseurs, Heldentum mit derart viel Waffengebrauch zu verknüpfen.