Film | Ab 10.Oktober im Kino: Aus dem Leben eines Schrottsammlers
Dieser Film gibt uns Aufschluss über unsere eigenen Sehgewohnheiten. Oder, anders formuliert: Er hilft uns, die Ausrichtung der Bretter vor dem eigenen Kopf wahrzunehmen. All das strahlend neofeudale Auftreten, das sich die heimischen Hollywood-Blaupausen längst zueigen gemacht haben bzw. in europäisierter Version kredenzen, geht diesem Film ab. Wie angenehm. Von WOLF SENFF
Im Einzelnen bedeutet das: In einer Situation, in der unsere Halbstarken-Darsteller Schweiger oder Charly Hübner der Kamera erst noch ihre männlich coolen Gesichter darbieten, ist das Personal dieses Films längst dabei, besonnen zu handeln, und das Naheliegende geschieht: Der Nachbar wird gebeten, sein Auto auszuleihen. Niemand bricht in Panik aus, niemand lächelt glücklich, niemand schreit auf, niemand heult, niemand ballert wie wild, niemand schlägt um sich. Die Ereignisse werden nicht durch auf diese oder jene Weise überzogene individuelle Reaktionen oder Gesten verdoppelt, sie stehen für sich (Buch und Regie: Danis Tanovic).
Dieses Grundmuster pointiert eine eher spontan entstehende, zurückhaltende filmische Ästhetik, die während der ersten Szenen noch befremdlich erscheinen mag, aber ihre Wirkung im Fortgang des Films desto intensiver entfaltet, erstens.
Zweitens: zum Inhalt. Das Geschehen spielt in Poljice, einem Dorf in Bosnien-Herzegowina, und beruht auf realen Ereignissen, die immerhin so viel Aufsehen erregten, dass darüber in der Zeitung berichtet wurde. Menschen, die sich von den verwertbaren Abfällen ernähren, die sie auf Müllhalden finden, waren bereits zentrales Thema in Paul Austers Erzählung In the country of last things (1987), das war auch damals Realität auf dem Planeten, wenngleich weit weg. In Aus dem Leben eines Schrottsammlers sind sie Normalität im Leben einer Roma-Familie in Bosnien-Herzegowina.
Nazif (Nazif Mujic) verwertet Schrott aller Art, Senada (Senada Alimanović) erledigt den Haushalt und versorgt die Kinder. Als sie eines Tages Schmerzen im Unterleib hat, geht sie in die Klinik, um sich untersuchen zu lassen. Sie ist schwanger, etwas mit ihrem Kind stimmt nicht, ihr droht eine Blutvergiftung. Eine Operation könnte das Problem beheben, doch der Chef des Krankenhauses lehnt einen kostenlosen Eingriff ab. Irgendwie muss die Familie das nötige Geld auftreiben – und die Zeit ist knapp, uns wird die Normalität des Elends vorgeführt. Die Familie ist nicht krankenversichert und gerät in die Fallstricke bürokratischer Entscheidungsabläufe, für die keine Not zählt, sondern Paragraphen und Verordnungen.
Das hört sich zäh und trocken an? Stimmt, der Film verzichtet auf jegliche Hollywood-Attitüde, ich erwähnte es. Faszinierend, dass er aber gerade deswegen eine überraschende Dichte gewinnt. Nicht leicht zu e
rklären, doch so ist es: Die Normalität des Geschehens ist schlicht und überwältigend.
Es ist ein Familienfilm der besonderen Art. Er zeigt uns europäische Wirklichkeit, über die wir möglicherweise gar nicht so genau Bescheid wissen möchten. Genügend gibt’s, die mit sehenden Augen durch den Alltag gehen und dennoch nichts wahrnehmen. Und manch einer versteckt sich eben gern, wenn es angesagt wäre, die Augen zu öffnen. Stimmt, so lässt sich Aus dem Leben eines Schrottsammlers auch beschreiben: ein unaufdringlicher Film und dennoch ein Augenöffner für eine Wirklichkeit, die auch bei uns längst Fuß fasst.
Im trauten, gemütlichen Merkelland wird vorzugsweise konservativ bespaßt, sei es unsere Nachwachsenden mit Produktionen wie Keinohrhase oder Kokowääh, sei es die Erwachsenen mit gewichtslosen Familiendramen wie Eltern (Kinostart im November), und man wüsste schon gern, welchen Zweck es haben soll, dass hiesige Medienprodukte den Kontakt mit der Wirklichkeit meiden – außer natürlich, dass sie Kohle einspielen sollen. Immerhin, allein die Tatsache, dass ein Film wie dieser den Weg in die hiesigen Lichtspielhäuser findet, zeigt, dass nicht jedermann diese komatöse Fröhlichkeit goutiert.
| WOLF SENFF
Titelangaben
Aus dem Leben eines Schrottsammlers
Bosnien-Herzegowina, 2013, 74 Min.
Buch und Regie: Danis Tanović
Darsteller: Senada Alimanović, Nazif Mujić, Sandra Mujić, Šemsa Mujić