Welcher Schriftsteller wünscht sich nicht einmal eine Zeit lang als Stipendiat in einer römischen Villa zu leben und sich ganz dem kreativen Schaffen zu widmen. In Gärten zu flanieren, an Brunnen zu sitzen und den Caffé am Morgen in einer kleinen Bar zu nehmen. Der Musenkuss scheint hier doch obligatorisch. Dass dabei trotz allem nicht immer nur künstlerischer Müßiggang herrscht, kann Mike Markart in seinem neuesten Italienroman Der dunkle Bellaviri bestätigen. Der Grazer Autor zeichnet ein Italien abseits der hell erleuchteten Fassaden, sein Blick dringt tief ins Innere des schöpferischen Ichs. Empfohlen von HUBERT HOLZMANN
Mike Markarts neuer Roman Der dunkle Bellaviri spielt in einer kleinen Ortschaft in der Nähe von Rom. Der Ich-Erzähler in dieser Geschichte ist eine eigenwillige Gestalt. Im Dunkeln bleibt, was er genau treibt. Er selbst vermutlich Künstler, Komponist, mitten in einer Schaffenskrise. Er lebt isoliert, sondert sich ab von seiner Umgebung, nimmt nicht teil am öffentlichen Leben, schützt, distanziert sich, beobachtet. Vor allem sich selbst, seine Eigenheiten, Befindlichkeiten. In langen Monologen geht er mit uns, zeigt uns seine Beobachtungen, nimmt uns mit auf seine täglichen Wege durch das Städtchen, über den Platz, zum Brunnen, in den Park.
Hier im Außen wird er von einem Fremden angesprochen, der selbst nicht weiß, wer er ist. Dieser Fremde ist ein Mensch ohne Identität, ohne Erinnerung. »Ich weiß nicht, wer ich bin?« Also ein Zeichen von kompletter Amnesie? Totale Leere? Innere Finsternis? Auf jeden Fall ist der Fremde aber hartnäckig, der Erzähler kann ihn nicht ignorieren, abschütteln. Also beginnt der Ich-Erzähler ihm sein Leben neu zu erzählen: das Leben eines Findelkinds namens Garretti, das bei einem Gemüsebauern aufwächst und als Sonderling laut klappernd mit getrockneten Peperoncini-Schoten durch den Ort läuft.
Markarts Italien
Wer Mike Markart kennt, weiß, dass er die meiste Zeit des Jahres in Italien lebt. Zum Beispiel in Calcata, ein beinahe verfallener Ort nahe der Hauptstadt, von dem er in seinem ersten gleichnamigen Roman Calcata (2009) erzählt. Das Leben dort ist nicht auf Hochglanz der Kulturreisen poliert, es spielt sich ab im Dunkel der Gassen, fast abweisend, sperrig. Sein Erzählband Magritte aus dem Jahr 2012 enthält diese Italienbilder. Und dann gibt es doch gleichzeitig auch die sinnlichen Erfahrungen und Lichtblicke – wie etwa Markarts Fotografien zeigen: unter anderem die Bilderserie von Chili- und Peperoncino-Sorten.
Wer also Italien nicht nur aus der kurzen Zeit um Ferragosto herum kennt, sondern sich wie Markart unter anderem auch als Stipendiat längere Zeit in Italien verbringt und sich auch an Orte der Einsamkeit begibt, dürfte wenigstens ab und zu mal an Grenzen stoßen. Und sich einen Gesprächspartner herbeisehnen. Und als einziges Gegenüber bleibt womöglich nur das eigene Spiegelbild. Und so ergründet Mike Markart in endlosen Monologschleifen im Gehen mit seinem Zuhörer, Nebenmann und Schatten Garretti die Möglichkeit, Biografie neu zu schreiben und zu erfinden.
»Garretti, so machten Sie auf sich aufmerksam, wenige Stunden, nachdem Sie auf die Welt gekommen waren: Sie brüllten in der aufgehenden Sonne Roms im starken, aber hilflosen Arm eines Gemüsebauern aus der Vorstadt. Ich kann Ihnen auch das Datum dieses Ereignisses sagen: Es war der 25. August 1961. Ich verwende einfach mein eigenes Geburtsdatum. Denn ich weiß mit Sicherheit, dass der 25. August 1961 ein Freitag war. Also Markttag. Ich traue dem Fremden nämlich alles zu, wie ich auch jedem anderen Menschen alles zutraue. Er könnte einen einzigen auch noch so kleinen Fehler meinerseits bemerken und mir die Unrichtigkeit meiner Geschichte vorwerfen.«
Im Nebeneinanderher mit Garretti entsteht so eine tiefe Vertrautheit zwischen den beiden, sie teilen die Geschichte von Leere, Isolation, Wahnsinn. Und die Geschichte des anderen. Garretti also ein Doppelgänger, alter ego, die Folie, auf die das Ich transponiert wird. Garretti ist eine erfundene Person, die sich mit dem Klappern der Peperoncini ständig selbstversichert, sich in der Existenz versichert, sich ihr Daseinsrecht erkauft. Ein Spring-ins-Feld der Moderne, der sich im Verlauf der Geschichte als Brandstifter kleiner Feuer in Rom herausstellt.
Weitere Details und Motive zum Ich-Erzähler liefert der zweite Teil, eine Art Mittelteil oder Interludium. In Einzelausschnitten schwenkt der Blick auf Einstellungen aus dem früheren Leben des Erzählers: Er erfährt von merkwürdigen Plänen seiner Eltern, rekapituliert eine beinahe dionysische Erfahrung, die Nähe von Eros und Thanatos, während einer Wanderung durch Latium, berichtet von seiner Schaffenskrise als Komponist und hinterfragt das Leben einer Ameise. Alles zusammen Einzelbilder, die das Ich des Erzählers verorten lassen.
Musik im Palestrinastil
Mike Markart lässt seine Geschichte vom Der dunkle Bellaviri in einem italienischen Städtchen spielen, in dem er selbst längere Zeit gelebt hat und noch heute lebt. Vielleicht ist es das Calcata oder das östlich von Rom an den Berghängen gelegene Palestrina, in dem sich zu Beginn des letzten Jahrhunderts schon Thomas und Heinrich Mann herumgetrieben haben. Mike Markarts Erzähler allerdings wandelt nicht auf literarischen Spuren. Vielmehr schottet er sich ab, geht in Distanz zu diesen Autoritäten, obgleich er das Spannungsfeld zu den musikalischen Vorbildern sucht – bezieht er doch sein Zimmer in Palestrina, dem Geburtsort des Musikers, mit Blick auf das Denkmal des Komponisten.
Markarts Erzähler setzt sich als schaffender Künstler also bewusst in das Spannungsfeld mit der Tradition. Er muss die Einflüsterungen des Renaissancekomponisten ertragen. »Angefangen haben diese Erscheinungen vor einiger Zeit damit, dass dieser Palestrina begonnen hat, sich in meine Kompositionen einzumischen.« Natürlich leidet er darunter, ihm droht der Verlust seines Gehörs. Er sieht seine Existenz bedroht. Und dennoch: Er trotzt den Autoritäten, eine Flucht ist sinnlos.
Mike Markarts Sprache betont in seinem Der dunkle Bellaviri bewusst den sehr musikalischen Duktus – fast im Stile des päpstlichen Komponisten: Markart erzählt in kleinen Motiven, winzigen Bausteinen, die er wieder und wieder fast ritornellartig aufgreift, variiert und weiterführt. »Was treibt mich also hinaus aus meiner Wohnung? Hinunter auf die Straße? Durch die Gassen? Oder in den Park? Mein Arzt hat es mir verordnet. Zweimal täglich, hat er zu mir gesagt, müssen Sie hinaus aus Ihren Räumen, hinunter auf die Straße. Er kennt mich beinahe mein ganzes Leben lang… Deshalb sehe ich keinen Anlass, mich seinen Anweisungen zu widersetzen. Ganz im Gegenteil. Ich bin ein Uhrwerk… ich bin zufrieden, wenn ich funktioniere.«
Im Parlando, ein Tempo Andante liegt nahe, schreitet der Erzähler voran. Entwickelt und durchlebt neben Garretti dessen Biografie in seinen Einzelheiten. Im Gang des Erzählers. Die Unsicherheit spiegelt sich in der Kurzatmigkeit der Sätze. Garretti folgt wie ein Schatten. So entsteht die Figur Garretti als Begleitstimme zum Ich-Erzähler. Gegen Ende des ersten Teils kommt eine weitere Gestalt als Kontrapunkt hinzu: Bellaviri. Zunächst lernen wir Bellaviri als Sonnenkind, das einer fernen Märchen- oder Sagenwelt entstammen könnte, kennen. Es wird durch Garrettis Peperoncino-Geklapper erweckt. Dieser junge Bellaviri öffnet die Fensterläden seiner Kammer und lässt damit die Sonne über dem ganzen Ort erstrahlen. Doch nicht lange. Denn schon bald ziehen dunklere Wolken auf und die Geschichte schwenkt ins Schattenhafte, Parabelartige. Bellaviri erkaltet er und wird künftig Unheil über die Gegend, in der er verweilt, bringen.
Am Schluss dann fast schon wieder eine versöhnliche Geste: In Venedig lassen sich Touristen in einer Gondel durch Venedig fahren, jedoch bei Extremhochwasser siebzig Meter über dem Platz. Mike Markart ergründet in seinem neuen Roman das Künstlerdasein, ohne vordergründig zu klappern. Bewegend.
Titelangaben
Mike Markart: Der dunkle Bellaviri
Graz: Edition Keiper 2013
192 Seiten. 17,60 Euro
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