Hinter dem Ringen um künstlerisches Schaffen und zurückgewiesene Liebe verbirgt sich ein Familiendrama von den Ausmaßen einer griechischen Tragödie. Katya Apekinas Debüt Je tiefer das Wasser kann gleichermaßen als Coming-of-Age-Roman wie Psychogramm ungesunder Beziehungen gelesen werden. Spannend wie ein Krimi ist es ohnehin. Von INGEBORG JAISER
The Deeper the Water the Uglier the Fish – der vollständige Originaltitel des Romans lässt bereits eine vage Ahnung von Düsternis und Abscheu aufkommen. Doch schon nach wenigen Seiten kommt einem ein bekanntes Sprichwort in den Sinn, das auf geradezu alttestamentarische Wurzeln zurückgeht: »Blut ist dicker als Wasser«. Möglicherweise eine trügerische Annahme, die in dieser schonungslosen Familienaufstellung gleich mehrfach ins Wanken gerät.
Edith (genannt Edie) ist 16, Mae 14 Jahre alt, als sich ihre Mutter Marianne umzubringen versucht – und das nicht zum ersten Mal. Während Marianne in einer privaten Nervenklinik landet, schickt man die Töchter vom provinziellen Heimatort in Louisiana ins ferne New York, zu ihrem leiblichen Vater Dennis Lomack. Der einst erfolgreiche, inzwischen von einer Schaffenskrise geplagte Schriftsteller hat sich schon vor langer Zeit aus dem Staub gemacht, als die Mädchen noch sehr klein waren. Eigentlich ist er immer ein Fremder geblieben.
Emotionaler Vampir
Die brisante Situation scheint nicht gerade ideal für eine Familienzusammenführung: Zwei frühreife Girlies im Spannungsfeld zwischen einer bipolaren, neurotischen Mutter mit Suizidgefährdung und einem egomanischen Vater mit hohem Frauenverschleiß. Während das dräuende Unheil fast körperlich zu spüren ist, umkreisen Verwandte, Bekannte, Wegbegleiter in wechselnden Abständen die eigentliche Hauptfigur Dennis Lomack, einer wahren Schriftstellerikone, die jedoch bessere Zeiten gesehen hat. Hat der Erfolgsautor gnadenlos Beziehungen und Gegebenheiten ausgeschlachtet, um sie in Literatur zu verwandeln? Trifft ihn die Schuld an der geistigen Zerrüttung seiner Ex-Ehefrau Marianne?
Was sagen andere über ihn? Freund Fred: »Er war ein emotionaler Vampir. […] Ereignisse, Persönliches, das ich ihm im Vertrauen offenbart hatte, wurde Absatz für Absatz ordentlich getippt ausgebreitet.« Ein entfernter Bekannter: »Lomack bezeichnete sich selbst als eine toxische Kraft im Leben anderer Leute. […] Meiner Ehe hat er jedenfalls nicht gutgetan.« Tochter Edith: »Es stimmt, was Mom immer sagt. Er mag seine Vögelchen mit gebrochenen Flügeln.«
Mythologische Anleihen und archaische Gewalt
Wie in einer griechischen Tragödie scheint der Fluch vorherbestimmt. Während Edie davon träumt, die Mutter aus den Fängen der Psychiatrie zu befreien, buhlt Mae um die Nähe und Zuwendung des Vaters, der unter massivem Druck steht, trotz lähmender Schreibblockade den nächsten Roman zu abzuliefern. Raffiniert durchschaut Mae die Schaffensmechanismen und Inspirationsquellen des Schriftstellers und wagt den riskanten Schritt, die ehemalige Rolle der Mutter als Muse einzunehmen. Die Tochter als »Zweitbesetzung«, getrieben von zwielichtigen Inszenierungen und Ritualen, ausstaffiert mit altmodischen Requisiten – wohin soll das führen?
Während das Unheil an allen Fronten seinen Lauf nimmt, gerät man als Leser in einen verführerischen Sog, in einen morastigen Sumpf der Gefühle. Abscheu und Nervenkitzel wechseln sich ab. Erzählt wird das Geschehen aus verschiedenen Perspektiven, wie von einem polyphonen Chor intoniert. Außer den Stimmen von Edie und Mae tauchen Berichte von Weggefährten auf, die sich wie Zeugenaussagen anfühlen, angereichert durch fiktive Dokumente: eine Rezension von Dennis Lomacks Frühwerk, psychiatrische Notizen zu Marianne, Tagebuchauszüge und Briefe der Protagonisten. Das ergibt eine brodelnde, giftige Mischung bis zu einer kaum mehr erträglichen Spannung. Es wird Opfer geben und geschundene Seelen, das ist sicher.
Mit Je tiefer das Wasser ist der in Moskau geborenen Autorin Katya Apekina ein literarischer Überraschungserfolg gelungen, der auf tiefe, archaische Ursprünge zurückgreift. Geschickt werden mythologische Muster mit familiären Verwerfungen verwoben, bei denen nicht nur der kinderfressende Kronos und die vergeblich mahnende Kassandra Pate standen. Auch wenn eine mehrstimmige Erzählweise gerade weit verbreitet und sehr in Mode gekommen ist, hat Apekina ihren eigenen, souveränen Stil entwickelt. Ein psychologisch meisterhaft komponierter und arrangierter Debütroman, der wie ein düsterer Alptraum nachhallt.
Titelangaben
Katya Apekina: Je tiefer das Wasser
Aus dem amerikanischen Englisch von Brigitte Jakobeit
Frankfurt: Suhrkamp 2020
392 Seiten. 24.- Euro
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