Vertrauen, Versuchung und Verrat

Roman | Bernhard Schlink: Abschiedsfarben

Bernhard Schlinks Werke zeigen dann ihre bekannte Größe, wenn sie um existenzielle Lebensfragen wie Recht und Gerechtigkeit, Schuld und Sühne kreisen. Auch der neueste Erzählband ›Abschiedsfarben‹ spielt die moralisch-ethischen Kardinalthemen in variantenreichen Spielarten durch, ist jedoch nicht frei von einem larmoyanten Unterton. Von INGEBORG JAISER

AbschiedsfarbenWoran liegt nur das Geheimnis von Schlinks Erfolg? Mit unermüdlichem Ehrgeiz und Ausdauer hat der promovierte Jurist und ehemalige Professor für Öffentliches Recht eine Fülle von viel beachteten Romanen, Krimis, Essay- und Prosabänden verfasst, obwohl er erst im Alter von über 40 Jahren belletristisch zu publizieren begann. Mit ›Der Vorleser‹ gelang ihm der ganz große Coup, der ihm zu Weltberühmtheit verhalf: Der Bestseller avancierte zur Schullektüre, wurde in 50 Sprachen übersetzt und erfolgreich mit dem Hollywood-Star Kate Winslet in der Hauptrolle verfilmt. Ob auch die Erzählungen durch ihre szenische Vorstellungskraft überzeugen?

Rückblick mit Gewissensbisse

Wer bei ›Abschiedsfarben‹ verblassendes Herbstlaub assoziiert, liegt nicht ganz falsch (auch angesichts des vergangenen Erzählbands mit dem Titel ›Sommerlügen‹) – bewegen sich doch alle neun Geschichten in vagen Schattierungen von fahlen Pastelltönen, zumindest gefühlsmäßig. In mal melancholischer, mal verbitterter Stimmung heißt es Abschiednehmen: von der Jugend, von Frauen und Freunden, von Lebenslügen und zweifelhaften Arrangements, von Hoffnungen und Idealen. Doch meist lässt die Rückschau unbequeme Fragen, gar Gewissensqualen aufflackern. Denn keiner der Protagonisten ist frei von Schuldgefühlen. Ein Wissenschaftler hat einst seinen besten Freund an die Stasi verraten und wird Jahrzehnte später von dessen Tochter entlarvt (›Künstliche Intelligenz‹). Ein Musikkritiker war als Jugendlicher mit einem Geschwisterpaar aus gutem Hause befreundet und erkennt erst im reifen Alter, dass seine damalige Entscheidung für ein Auslandsstudium als schwerer Verrat empfunden wurde (›Geschwistermusik‹).

»Was hat Bestand, was hat Bedeutung, wenn die Jahre einfach so davonfliegen?«, sinniert die Hauptfigur aus ›Jahrestage‹, ein erfolgreicher Historiker und Schriftsteller, mit einem Glas Champagner in der Hand. Sein wehmutsvoller Rückblick erfolgt von einer sicheren Warte aus. Fast alle Geschichten aus dem Kosmos der Abschiedsfarben sind bevölkert von gut situierten älteren Herren aus dem saturierten Bildungsbürgertum: Lektoren, Musikwissenschaftler, Institutsleiter. Man begegnet sich in der Oper, bei den Bayreuther Festspielen oder der documenta in Kassel, bewohnt Villen mit Klavierzimmer und weißen Bänken, wie man sie von »Schlossterrassen und -parks« kennt, bestenfalls auch ansprechend renovierte Gründerzeithäuser, die als beliebte Filmkulisse dienen. Ob das Gros der ›Abschiedsfarben‹-Leser wohl dem beschriebenen Milieu angehört – oder sich nur sehnsuchtsvoll hineinträumt?

Lolita bis Homo Faber

Verlangen und Begierde ziehen sich als omnipräsente Themen durch alle Erzählungen, wenngleich in zweifelhaften Zusammenhängen. Der Ich-Erzähler aus ›Künstliche Intelligenz‹ listet unter den »Verrichtungen« eines Tages die Lösung eines Serverproblems, den Besuch eines Straßencafés und – vollkommen zusammenhangslos, aber selbstgefällig – auf: […] »traf zufällig die Witwe aus dem Nachbarhaus, eine siebzigjährige Frau mit starker erotischer Ausstrahlung, die mir gefällt und der auch ich gefalle«.

In ›Picknick mit Anna‹ trägt das Girlie aus der Nachbarschaft »den unvergleichlichen, unwiederbringlichen Mädchenduft nach Kind und Frau und frischen Früchten, dessen Versprechen einen um den Verstand bringt.« Da mag dem belesenen Bildungsbürger sofort Lolita in den Sinn kommen, so wie an anderer Stelle geflissentlich ›Homo Faber‹ herbeizitiert wird. Doch selbst wohlgemeinte Anleihen an die Weltliteratur lassen ganze Passagen aus den ›Abschiedsfarben‹ seltsam hölzern und steif erschienen, wie die verirrten Fantasien reiferer Herren.

Gerne wird den ›Abschiedsfarben‹ eine stilistische Nähe zu amerikanischen Großmeistern wie Richard Ford oder John Updike unterstellt, doch sie lassen deren Stringenz und Lakonie vermissen. Während die treuen Buchkäufer Bernhard Schlinks neuesten Erzählband wochenlang an die Spitzen der Bestseller-Charts katapultiert haben, kämpft manch kritischer Leser mit eher zwiespältigen Eindrücken.

| INGEBORG JAISER

Titelangaben
Bernhard Schlink: Abschiedsfarben
Zürich: Diogenes, 2020
231 Seiten. 24 Euro
| Erwerben Sie dieses Buch portofrei bei Osiander

Reinschauen
| Leseprobe

1 Comment

Ihre Meinung

Your email address will not be published.

Voriger Artikel

Weglaufen, um wieder gefunden zu werden

Nächster Artikel

Das Pentagramm der Macht

Weitere Artikel der Kategorie »Roman«

Für Zuckerwatte und hungernde Kinder

Roman | Ross Thomas: Der Messingdeal Und weiter geht es mit der Ross-Thomas-Reihe im Berliner Alexander Verlag. Band 14 heißt Der Messingdeal und ist im Original 1969 unter dem Titel The Brass Go-Between erschienen. Zum ersten Mal taucht hier bei Thomas der weltläufig-gebildete »Mittelsmann« Philip St. Ives als handelnde Figur auf. Sein Erfinder hat ihm bis 1976 dann noch vier weitere Abenteuer gegönnt. Alle fünf St. Ives-Fälle erschienen übrigens zunächst unter dem Pseudonym Oliver Bleek – vielleicht um den Eindruck zu vermeiden, hier schriebe einer seine Bücher inzwischen gar zu routiniert herunter. Von einem Qualitätsabfall gegenüber dem Rest des Werks

Der vierte Streich des Rentnerclubs

Roman | Richard Osman: Der Donnerstagsmordclub oder Ein Teufel stirbt immer zuletzt

Sie sind gerade auf Entzug, denn ein ganzes Jahr lang haben sie ohne Mord leben müssen. Da geschieht es endlich wieder: Ein Antiquitätenhändler musste ins Gras beißen. Mit fast 80 Lebensjahren trotzdem kein würdiger Abschluss für Kuldesh Sharma. Aber ein guter Grund, um den Donnerstagsmordclub zum vierten Mal in ein gefährliches Abenteuer zu stürzen. Und natürlich sind sie alle vier – Joyce, die Ex-Spionin, Elisabeth, die so gern Schriftstellerin wäre, der »Rote Ron« und Psychiater Ibrahim – wieder dabei. Denn ohne das Quartett aus der Seniorensiedlung Coopers Chase wäre die Südostküste des Vereinigten Königreichs ein kriminelles Sodom und Gomorrha. Von DIETMAR JACOBSEN

Der Papst ist tot – es lebe die Intrige

Roman | Robert Harris: Konklave Wer ist oben, wer ist unten in der Welt? Wer hat die Macht, wer lechzt nach ihr und wer fällt ihr zum Opfer? Das sind Fragen, die Robert Harris von jeher interessieren. Und er kleidet sie in bunte, abenteuerliche Gewänder, erfindet zwischen ihren Trägern – ob sie nun im faschistischen Deutschland, im alten Rom oder im stalinistischen Russland agieren – spannende Konflikte und verkauft das Ganze an Millionen Leser in aller Welt. Robert Harris’ ›Konklave‹ – eine Besprechung von DIETMAR JACOBSEN

Doppelter Diebstahl

Roman | Martin Suter: Allmen und die Dahlien Neu aus der Schweiz – Martin Suters Roman Allmen und die Dahlien. Von PETER MOHR

»Das Land der unsichtbaren Verbotsschilder«

Roman | Ina Raki: In einem Land vor meiner Zeit Leben als Jugendliche in der ehemaligen DDR des Jahres 1984, aber mit dem Wissen einer Jugendlichen von heute – auf dieses erzählerische Abenteuer hat sich Ina Raki eingelassen und damit einen überzeugenden Roman jenseits aller Ostalgie und DDR-Romantik erschaffen. Von BEATE MAINKA