Manchmal muss man wohl einfach abhauen, damit die anderen merken, dass man fehlt. So ergeht es auch dem kleinen Kind in dieser Geschichte. Es rennt von zu Hause fort, schreibt aber vorher auf, wo man es findet. Und erlebt ein kleines Abenteuer dabei. Von GEORG PATZER
Mutter hängt am Handy, Vater stiert in seinen Computer, keiner hat Zeit. Es ist, als wenn es ihn nicht geben würde, obwohl er mitten im Raum steht, eine riesige rot-weiß gestreifte Pudelmütze auf dem Kopf und den Rucksack geschultert, aus dem quer eine große Matte ragt: »Manchmal fühle ich mich unsichtbar«, sagt das Kind. Und geht. Legt einen Brief auf die Kommode und verschwindet. Geht in den Wald, wo es jeden Baum und jeden Strauch kennt, »und mit jedem Schritt werden meine Füße leichter«.
Immer tiefer geht es in den Wald hinein, ein Fuchs steht plötzlich vor der untergehenden Sonne, dann verschwindet er wieder. Als es Nacht wird, breitet das Kind seine Matte aus und kriecht in den Schlafsack: »In der Dunkelheit ist alles wie verwandelt. Aber ich bin gut vorbereitet!« Kuschelt sich tief hinein, bis nur noch die großen Augen und die Nasenspitze herausgucken. Und fühlt, wie die Nacht »unendlich groß und weit« scheint, »und ich fühle mich so klein.«
Dann erscheinen plötzlich riesige Augen im Gebüsch, und während das Kind schläft, schleicht sich der Fuchs behutsam näher, schnuppert an diesem seltsamen Wesen, das so gar nicht in den Wald gehört. Und am nächsten Morgen wacht das Kind auf und sieht erstaunt: Der Fuchs hat es sich am Fußende des Schlafsacks bequem gemacht.
Es ist eine etwas märchenhafte Geschichte, die sich Taltal Levi ausgedacht hat, mit vielen realistischen Elementen. Traurig fängt sie an, mit der Nichtbeachtung der Eltern, die das Kind dazu bringen zu verschwinden. Das im Wald nächtigt, wo es sich gut auskennt. Wo dann der Fuchs erscheint: »Schüchtern, aber neugierig – genau wie ich«, denkt das Kind, als sie sich mit Abstand beäugen. Der Fuchs folgt dem Kind durch ein hohes Feld, nur noch sein Schwanz ist zu sehen. Kommt am Ende des Felds ein wenig näher, und dann laufen sie zusammen den Abhang hinunter ans Meer.
Das Kind denkt: »Bin ich vielleicht doch nicht unsichtbar?« Und zeigt dem Fuchs, der interessiert über seine Schulter schaut, ein Foto: »Das hier ist mein Lieblingsort, und das sind meine Lieblingsmenschen« – zu sehen ist seine ganze Familie, aufgenommen hier an diesem Ort mit diesen Bergen und dem Meer. Und da kommen sie auch schon, winken, eilen und nehmen das Kind in den Arm.
Die Geschichte fällt tatsächlich ein wenig auseinander. Das Verlassenheitsgefühl eines Kindes und die wieder heile Familie am Schluss – dafür hat das Kind den Brief zurückgelassen: Im Original heißt das Buch passenderweise ›Meet me by the Sea‹. Da ist es kein Finden, sondern ein Treffen. Und dazwischen das märchenhafte »Zähmen« des Fuchses, wie es in ›Der kleine Prinz‹ heißt. Der dann übrigens auf dem Schlussbild allein auf der Klippe sitzt und aufs Meer schaut, während das Kind noch einen Blick zurückwirft: Das verspricht tatsächlich eine Fortführung ihrer Freundschaft. Aber das Weglaufen und vor allem das Wiedergefundenwerden geht doch ein bisschen zu glatt und selbstverständlich über die Bühne.
Die Bilder von Taltal Levi, die in Basel lebt, sind sehr schön und phantasievoll, wenn auch die Charaktere ein wenig glatt gezeichnet sind. Dafür ist der Rest auch anspielungsreich: Schon im Elternhaus hängt ein Fuchsbild, die Klippe ist auf einem Gemälde zu sehen und im Bücherbord steht eine Art Hund, auf dem eine Figur reitet und dem Betrachter zuwinkt. Einfallsreich sind ihre Buntstift- und Aquarellzeichnungen von der Natur, den Herbstblättern, die auf den Fluss fallen, der riesige Fuchsschatten vor der untergehenden Sonne, die erst auf einem Ast sitzende und dann durch das nächtliche Bild gleitende Schleiereule. Das ist zwar einfach, aber doch so aufgeladen gezeichnet, dass man fast das Laub rascheln hört, das Schnuppern des Fuchses und den Luftzug beim geheimnisvoll leisen Flug der Eule spürt. Kleine originelle Details, Schnecken, Tauben oder Eichhörnchen am Rand der Bilder machen es noch lebendiger.
Titelangaben
Taltal Levi: Wo ihr mich findet
(Meet me by the Sea, 2021), übersetzt von Elisa Martins
Zürich: Verlag NordSüd 2020
32 Seiten, 15 Euro
Bilderbuch ab 4 Jahren
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