Eigentlich ist das ja ganz menschlich: Wer möchte nicht mal raus aus seiner Haut, jemand ganz anderes sein. Morgens in den Spiegel schauen und sagen: »Heute bin ich eine Politikerin, eine Poetin oder noch besser eine Pilotin«, das wäre doch ein Abenteuer! Warum sollte es einem Eichhörnchen da anders gehen? BARBARA WEGMANN hat die Geschichte des zweifelnden kleinen Wesens gelesen.
Wenn kleine Kinder ihre Trotzphase haben, dann können sie schon mal ganz schön aus der Haut fahren, wütend werden, jähzornig, unzufrieden. Vielleicht ist das so ein Zustand, in dem das Eichhörnchen eines Tages steckt: »Ich will kein Eichhörnchen mehr sein! NIE MEHR!« Dieses Herumspringen, dieses Zapfen suchen, nein, Schluss aus. Das kleine bezaubernde Tier mit dem buschigen Schwanz hat es ganz einfach satt. Ein Biber möchte es sein, ja, genau, »der macht was her, der ist ein Arbeitstier.« Schnell hat das Eichhörnchen Visionen von Bäumen, die es fällen und Dämmen, die es in Flüssen und Bächen anlegen wird.
Genauso schnell aber lernt das kleine Wesen, dass ein Biberleben verflixt anstrengend ist: »Ständig nasse Füße. Ehrlich gesagt hatte ich mir das viel schöner vorgestellt.« So ist das, wenn man Träume hat, was man sein oder werden möchte. Beschäftigt man sich etwas näher damit, dann zerplatzt nicht selten ganz schnell die Traum-Seifenblase und man ist, zufrieden, zurück in der Realität. Aber bis dahin versucht sich das Eichhörnchen noch in vielen anderen Rollen: Ein Hirsch, ja, das könnte es sich auch gut vorstellen, ein prächtiges Geweih, majestätisch, König der Wälder zu sein. Oder doch lieber eine Eule, ein Igel, ein Frosch oder eine Giraffe?
Sich selbst zu finden ist manchmal gar nicht so ganz einfach, aber im Vergleich mit anderen erkennt man dann schließlich doch seine persönliche Art, seine Individualität und sein ganz eigenes Wesen. Eine Entwicklung, die alle Kinder durchleben, schließlich muss man ja auch erst erkennen und lernen und empfinden, wer man ist, was man tut, was man will.
So ist das Buch eigentlich keine Geschichte, es gibt keine Handlung, es ist eine Aneinanderreihung verschiedener Momente, kurzer Zeitfrequenzen, in denen das Eichhörnchen seine Identität wechselt. Ein Igel, oh ja, »das ist das Leben, von dem ich immer geträumt habe. Man lässt sich bei allem Zeit, man rollt sich unter den Blättern zu einer Kugel zusammen.« Aber sobald es an den Speisezettel der Igel geht, ist der Traum ganz schnell ausgeträumt: Regenwürmer essen? »Igitt! Wie eklig!«
Die Zeichnungen spiegeln zwar die Wünsche des Eichhörnchens wider, sind aber wenig ansprechend und reizvoll. So sind die Augen des Eichhörnchens einfach nur groß mit einem schwarzen Punkt in der Mitte, aber eine Stimmung, von Freude bis Zweifel oder Ärger drücken sie nicht aus. Viele Wünsche hat es im Text, aber im Bild ist es ein ziemlich gefühlsarmes Wesen. Selbst die letztendliche Erkenntnis, wie ungeheuer schön es doch ist, ein Eichhörnchen zu sein, zaubert dem Tier kein Lächeln, keine Freude, keine Zufriedenheit über die gefundene Identität ins Gesicht.
Das Buch reizt viel mehr zum Nachspielen statt zum Vorlesen, zu eigenem Überlegen, gemeinsam mit älteren Geschwistern oder einem Elternteil, was man alles sein könnte, welche Vor- und Nachteile es gäbe und wie schön es ist, zu sein, wie man nun einmal ist. Da wird einem bestimmt viel einfallen und sicher kommt man letztlich zum selben Ergebnis wie das kleine Eichhörnchen.
Titelangaben
Olivier Tallec: Ich will kein Eichhörnchen mehr sein
(J’aurais voulu, 2021). Aus dem Französischen von Ina Kronenberger
Hildesheim: Gerstenberg 2022
36 Seiten, 13 Euro
Bilderbuch ab 4 Jahren
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