Kinderbuch | Yvonne Rogenmoser: Über den Gotthard
Flüsse und Täler, Wälder oder Berge haben Menschen noch nie daran gehindert, sie zu durchqueren, ganz gleich, wie groß oder auch gefährlich das Hindernis war. Dafür haben sich Menschen immer viel einfallen lassen. Die Aufgabe scheint zu lauten, Wege immer schneller und einfacher passierbar zu machen. Ein solcher Weg führt über den Gotthard-Pass. Yvonne Rogenmoser erzählt seine lange Geschichte in bunten Bildern für die Kleinen. Von MAGALI HEISSLER
Die anstehende Eröffnung des neuen Gotthard-Basis-Tunnels wird in der Schweiz als großes Ereignis gefeiert, so groß, dass sie sogar ein Sach-Bilderbuch wert ist. Rogenmoser beginnt nicht mit dieser betongewordenen Zukunftsvision, sondern mit einer Situation, die vielen bekannt ist: dem Autostau auf der Straße über den Pass. Statt am Strand zu liegen, hängt eine Familie in einer endlos scheinende Schlange. Die Kinder langweilen sich.
Die vertraute Situation zieht das kleine Publikum gleich in das Dargebotene.
Von hier aus geht es erst einmal weit zurück in die Vergangenheit. Schlaglichtartig werden die geographischen Gegebenheiten und die wichtigsten historischen Informationen präsentiert. Woher hat der Weg seinen Namen, wo liegt er überhaupt und wie lange benutzen ihn Menschen schon? Woher weiß man das? Und warum haben sie es überhaupt gemacht? Kaum eine Frage wird vergessen und natürlich gibt es Antworten darauf.
Die Fahrzeuge, die über die Jahrhunderte schon fast die gleiche Strecke gefahren sind wie die Familie heute, tuckern heran, vom zweirädrigen Karren bis zum Hochgeschwindigkeitszug.
Aber nicht nur Menschen sind auf dem Weg, auch Waren sind es. Und schon sind sie zu sehen. Zugleich entfaltet sich die Handelswelt der Gegend und ihre Besonderheiten. Im Mittelpunkt aber steht die Entwicklung des Wegs. Straßen, Brücken, schließlich die Tunnel. Ein Abenteuer.
Technik-Album und Bilderbuch
Rogenmoser beschränkt die Rahmenhandlung auf das Äußerste. Die eigentliche Handlung ist die historische Entwicklung des Wegs über den Gotthard. Präsentiert werden bautechnische, aber auch fahrzeugtechnische Entwicklungen. Die Texte auf den großen Doppelseiten sind stark reduziert, es gibt vor allem viel anzuschauen. Vergessen ist das Erzählen aber nicht. Es gibt keine Überfütterung mit Details, die Beschränkung aufs Wesentliche ist geradezu brillant. Oft überrascht der Blick auf die Dinge, Rogenmoser hebt kleine Aspekte heraus, lenkt den Blick auf vermeintlich Nebensächliches, vor allem aber achtet sie darauf, was ihr junges Publikum faszinieren könnte.
Für die, die das reine Erzählen lieben, gibt es auch etwas Besonderes. Nicht Rogenmoser erzählt, sondern ein echter Ureinwohner der Gegend, Geißbock Godi. Mit Witz und viel Sinn für putzige Verkleidungen ist er ein liebenswürdiger Moderator auf den Seiten. Er hält das Wenige, was hier als Handlung geboten wird, zusammen und hilft dabei, dass das Technik-Album auch ein Bilderbuch bleibt.
Wunderbare Technikwelt
Das Buch besticht in erste Linie wegen seiner Illustrationen. Mit Buntstift, ganz kleinteilig, sind die Seiten voller Figürchen, Menschen, Tiere, Waren, Landkarten, Schienenverlauf, Berg und Straße. Präsentiert wird eine Miniaturwelt in Ausschnitten. Das Innere des Hospizes gleicht dem Querschnitt einer Puppenstube, urplötzlich streckt einer ein Rind das Maul entgegen, Schienen schlängeln sich entlang. Eine Dampflok braust frontal auf die Betrachterin zu, ein Ungeheuer, schwarz, dicke Wolken ausstoßend. Man hört geradezu ihr schrilles Pfeifen. Beim Schauen bewegt sich über die Seiten nach oben, nach links und rechts und nach unten, als sei man selbst auf dem Weg.
Beeindruckend ist die Exaktheit der Details. Trotz der Einfachheit der Mittel beschränkt sich Rogenmoser nicht darauf, auf Silhouetten zu reduzieren und durch äußere Form allein aufs Wiedererkennen zu setzen. Es sind die winzigen Charakteristika, die eine staunen lassen, fesseln und begeistern. Die kleine Schnapsflasche hat z.B. eine deutlich erkennbare Frucht auf dem Etikett, der Maiskolben Körner – und es ist keineswegs gleichgültig, ob eine Brücke aus Holzbohlen oder Stein gebaut ist und ob Autoreifen Speichen oder Radkappen zeigen.
Wie schön und verständlich auch für kleine Kinder technische Zeichnungen sein können, beweisen die Seiten über den Tunnelbau durch die Jahrhunderte. Begriffe werden knapp erklärt, vor allem aber in Bilder umgesetzt. Natürlich gibt es auch Bilder der modernsten Tunnelbohrmaschine sowie einen Blick ins Führerhaus des allerneuesten Hochgeschwindigkeitszugs. Das wird nicht nur Technikfans begeistern.
Dass hierbei Kritik am Projekt fehlt und auch die schrecklichen Arbeitsbedingungen, denen fast eine Generation von Arbeitern im 19. Jahrhundert ausgesetzt war, nur knapp gestreift werden, versteht sich. Man soll sich freuen an diesem Buch und das tut man auch. Es ist gut gemacht, gut überlegt und einfach schön.
Am Ende erfährt man, dass man vor über siebenhundert Jahren noch drei Tage für den Weg gebraucht hat, während man ihn heute in zweieinhalb Stunden zurücklegen kann. Noch während man sich fragt, ob das nun Fortschritt ist, erfährt man schon, dass es bei dieser kurzen Zeit nicht bleiben wird. Schon wird an der nächsten Verkürzung gearbeitet, mindestens eine halbe Stunde soll bis 2020 gespart werden. Irgendwie ein Projekt, das sich in sich selbst erschöpft, keine richtige Geschichte, also. Aber ein schönes Bilderbuch.
Titelangaben
Yvonne Rogenmoser: Über den Gotthard
Zürich: NordSüd Verlag 2016
32 S. 17,99 Euro
Bilderbuch ab 5 Jahren
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