Die Monster kommen

Kinderbuch | Albertine/Sylvie Neeman: Sie kommen!

Was sich im Kopf abspielt, ist manchmal schrecklicher als in der Wirklichkeit. Aber muss es wirklich so bedrohlich sein wie bei dieser Frau? Zähnefletschende Monster jagen sie, mit spitzen Zähnen und gierigen Zungen. Aber was ist die Realität? Sylvie Neeman und Albertine haben ihren bösen Spaß damit. Von GEORG PATZER

Sie kommenSchrecklich. Grausig. Schlimm: Gleich kommen sie. Erstarrt steht die große Frau da in ihrem grünen Pulli und dem blauen Rock mit den roten Tupfen, die Hände gespreizt. Ihre aufgerissenen Augen zeigen ihre Angst, die in Panik umzuschlagen droht: »Es ist so weit. Ich höre sie. Da sind sie. Ich bin mir ganz sicher, gleich sind sie da.« Neigt den Kopf nach rechts: »Ich sehe sie nicht. Aber ich höre sie.«

Und da sieht man schon ihre schwarzen Schatten: Bösartig fletschen sie die Zähne, gierig recken sie ihre Mäuler nach vorn, ihre Ohren sind spitz nach vorn auf Angriff ausgerichtet, ihre Zungen weit rausgestreckt: »Wie viele sind es? Hundert? Tausend?« So macht sie sich ihre Gedanken, schaudert vor der eigenen Phantasie: eine Rhinozerosherde, eine Meute von Dinosauriern, »eine Familie zotteliger Mammuts, die durch die Steppe galoppieren« oder »sechsunddreißig Orang-Utans, die sich alle in einem Bus drängeln und schubsen.«

Und wie werden sie aussehen? »Ob sie lange grüne Arme mit Stachelhaaren haben?« Spitze Ohren und scharfe Krallen? »Ob ihre Augen Blitze schleudern können?« Hoffentlich, hoffentlich haben sie gut gefrühstückt und süßträumiglich geschlafen. »Ich kann nur hoffen, dass sie gut gelaunt sind und nicht ihre Enterhaken und Ritterschwerter dabeihaben. Manchmal, so sagt man, rücken sie auch mit ihren Piratendolchen und Räuberspießen an. Und manchmal sogar mit ihren kleinen Brüdern.«

Eine ganz schreckliche Schar muss das sein: Jede Seite, jedes Bild, jeder Satz flößt einem mehr Angst ein, und man kann die Frau, immer besser verstehen. Selbst wenn sie lächeln, die Monster, und manchmal machen sie das, dann »strahlen dich ihre Augen wie Sterne an« – aber kann man ihnen trauen? Oh diese Angst: »Ob sie mir viele Fragen stellen? Und wenn ich darauf keine Antwort weiß, was dann?« Sie versucht sich Mut zuzureden: »Jetzt aber Schluss mit dem Kinderkram! Aus dem Alter bin ich raus! All die Geschichten über Monster und Ungeheuer, Wölfe und Gespenster und Hexen und Frösche – so oft, wie ich sie schon erzählt habe, da glaubt man am Ende noch daran. Als ob es sie wirklich geben würde. Als ob …« Aber da kommen sie angewalzt. Owei oweh!

Eine urkomische Geschichte hat sich die Schweizer Kinderbuchautorin Sylvie Neeman ausgedacht. Schritt für Schritt steigert sie den Alptraum und die panischen Erwartungen einer Frau, die sich gegen ihre eigenen Phantasien kaum noch wehren kann. Die sich nach und nach schaurigste Details ausspinnt, wie die Monster wohl aussehen und was sie mit ihr anstellen werden. Dabei bleibt alles im Nebulösen, nur im Kopf der Frau. Alle von der Illustratorin Albertine gezeichneten monströsen Gestalten mit ihren Zähnen und Klauen sind nur Schemen, Hirngespinste.

Dabei konterkarieren die einfallsreichen Illustrationen die Phantasien der Frau, denn immer wieder kommt etwas Putziges ins Bild: Im Bus hockt die imaginierte Tierherde aus Orang-Utans und Nashörnern kreuz und quer übereinander, ein Luftballon schwebt aus dem hinteren Fenster, von einem grünen Saurier gehalten und ein kleines Spielzeugmonsterwägelchen fährt nebenher, das ein Orang-Utan liebevoll an einer langen Schnur mitzieht.

Am Frühstückstisch reißt ein gepunktetes Monster das Maul weit auf, ein Kuchen mit Tintenfischverzierung steht neben einer Schachtel, auf der kurz und knapp »Knusper« und »Knurps« steht, grinsend verstecken sich die Wesen hinter dünnen Bäumen, die auf einem Spielplatz stehen, stürzen durch das Fenster auf die Frau zu, stapfen einen Gang entlang, und man sieht wie in einer Schule Anoraks, Jacken und ein Schal an Garderobehaken aufgehängt sind, Schuhe in Reih und Glied unter der Bank stehen. Und an der Wand sind jetzt tatsächlich ihre bedrohlichen schwarzen Schatten zu sehen: »Zu spät … Da kommen sie! Sie sind schon da! Ich sehe sie …«

Ja, und dann kommt man zum letzten Bild. Und da steht die Frau mit ihren roten Haaren und dem getupften Rock in einem Klassenraum, ein Buch in der Hand, neun Kinder umringen sie und schauen erwartungsvoll zu ihr hoch, ein Mädchen, das auch einen getupften Rock anhat, zieht sie am Rock, ein Bub hat eine kleine Dinosaurierfigur unterm Arm, ein anderes Mädchen zerrt ihren Bruder durch die Tür. Und an der Wand hängen friedlich Bilder von Krokodilen, Katzen, Kirschen, einer Torte, den Buchstaben bis J, eine Giraffe mit zwei Hula Hoop-Reifen um den Hals, allerlei Figuren und Unterrichtsmaterial.

So also sieht es im Kopf einer Lehrerin aus, bevor die Klasse kommt? Mit dem Kopf nach unten dicht über einem grün brodelnden Kessel gehalten, in dem ein Monster schon rührt? Und ein anderes mit langer Zunge kostet, während ein drittes mit gespitztem Bleistift auf sie zuläuft? Und das mit diesen süßen Kleinen? Denn jetzt versteht man auch die vielen zeichnerischen Anspielungen, die Spielzeuge, den Spielplatz, den Schulbus, die Bälle.

Es ist ein hochironisches, witziges Buch, in dem man immer neue Details entdeckt und sich köstlich über das Auseinanderklaffen von Phantasie und Wirklichkeit amüsiert. Oder ist es doch nicht so witzig?

| GEORG PATZER

Titelangaben
Albertine/Sylvie Neeman: Sie kommen!
(»Ils arrivent!«, 2018) Übersetzt von Bernadette Ott
Stuttgart: Aladin Verlag 2020
40 Seiten, 15 Euro
Bilderbuch ab 5 Jahren
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