Kinderbuch | Allen Say: Der Kamishibai-Mann
»Früher …« So beginnt mancher Satz und meist hat er einen melancholischen Ton. Zudem gerät der Blick zurück leicht ins Verklärte. Nicht so bei Allen Say. Er blickt unsentimental auf Vergangenes und enthüllt dadurch die Schönheit, die alterslos ist. Von MAGALI HEISSLER
»Kamishibai« klingt nach Märchen und Märchen sind eigentlich einfache Geschichten. Eine solche erzählt der japanisch-koreanisch-amerikanische Illustrator und Autor Allen Say: Ein alter Mann erinnert sich, wie er früher als Geschichtenerzähler arbeitete. Die Erinnerung treibt ihn dazu, sich noch einmal auf sein Fahrrad zu setzen und mit seinem Papiertheater, das bedeutet »Kamishibai« wörtlich, in die Stadt zu fahren, um noch einmal seine Geschichten zu erzählen.
Aber die Jahre haben den Mann nicht nur alt werden lassen, sie haben auch die Stadt verändert. Der Geschichtenerzähler muss sich in einer fremden Umgebung zurechtfinden, noch bevor er die Vergangenheit aufleben lassen kann. Doch will überhaupt noch jemand Geschichten hören?
Sich verlieren, sich wiederfinden
Say erzählt in kurzen schlichten Sätzen. Was so einfach klingt, ist nicht weniger als der Beginn einer klassischen Heldenreise. Der alte Mann Jiichan, Opa genannt, bricht auf in ein Abenteuer, auf das weder er noch die Leserin gefasst sind. Es ist eine Reise in ein unbekanntes Land. Die Zeit hat aus dem Vertrauten eine Welt für Riesen gemacht. Breite Straßen, Hochhäuser, rasender Verkehr und Lärm scheinen den kleinen Menschen verschlingen zu wollen. Im letzten Augenblick kann er sich retten, aber das Abenteuer geht weiter. Die Rettung bringt nur die nächste Gefahr. Der Held scheint verloren.
Die Vermischung von Märchenmotiven und Alltag ist vollendet gelungen. Say zeigt, wie allein der Blick auf die Dinge Märchen entstehen lässt, auch wenn sie ganz alltäglich sind. Das Märchenhafte ist gleichermaßen Kern wie die eigentliche Schönheit des Lebens trotz aller unschönen Veränderungen. Erzählen, so eine der wichtigen Botschaften dieser Geschichte, bedeutet, etwas Schönes weitergeben. Und diese Schönheit bleibt. In ihr findet sich der Held wieder, nachdem er fast zugrunde gegangen wäre.
Die Motive, die Say nutzt, sind ebenso vermeintlich einfach. Die Einfachheit hat ihren Grund darin, dass sie wesentlich sind. Worte, Staunen, Süße. Sie ist nicht zuckrig-verklebt, sie ist Würze. Allein dieser Gedanke ist schon großartig und er ist meisterlich eingeflochten. Unaufdringlich, weil gleichfalls meisterlich, ist auch die Hilfe beschrieben, die Jiichan von Anfang an erfährt. Durch seine Frau nämlich, Baachan, Oma, die ihm zur Verfügung stellt, was wesentlich ist für seine Reise, sowie ihre stille innere Unterstützung. Hier agiert eine gute Fee.
Das Wunder am Ende bewirkt nicht nur, dass sich der Held wiederfindet. Es hat Auswirkungen, die weite Kreise ziehen. Trotzdem bleibt es erdverbunden. Niemand träumt hier nur, die Welt hat sich geändert. Märchen sind trotzdem erlebbar.
Zart und wahrhaftig
Says Illustrationen machen seine Geschichte selbst zu einer Geschichte für ein Papiertheater. Großflächig, mit klaren Linien, auf das Wesentliche reduziert, scheinen sie die Bildkarten zu sein, die der Erzähler eine nach der anderen in die Vorrichtung schiebt, die seine kleine Bühne ist.
Die Farben sind gedämpft, auf den ersten Blick nicht fröhlich. Es ist eine blasse, sacht blau und grüne, grau-hellbraune Welt.
Bunt macht sie die jeweilige Geschichte, bunt sind die Süßigkeiten dazu, die der Erzähler aus einer Schublade am Kasten zieht und dazu verkauft. Bunt, das entspricht der Handlungslogik, ist die Vergangenheit. Sie ist eben auch eine Geschichte, nicht mehr, aber auch nicht weniger. Die Striche und Linien wiederum schmeicheln nicht, sind bei aller Klarheit oft hart, herb, sogar bedrohlich. Die Bühne wird zum Kasten, der Kasten so eng, dass er fast ein Gefängnis ist. Die Eindeutigkeit verweist aber auch darauf, dass Say den Boden unter den Füßen nie verliert. Seine Geschichte ist eine von Wahrhaftigkeit.
So ist die Auflösung voller Freude, Zuneigung und einer von Herzlichkeit geprägten Nostalgie. Das Ende der Geschichte aber weist gleich zweifach auf die Zukunft. Jiichan und Baachan mögen alt sein, die Zeit ist bei ihnen keineswegs stehengeblieben. Wahrhaftigkeit liegt eben auch in der Erkenntnis, dass sich Vergangenheit und Zukunft nicht ausschließen, sondern zusammengehören. Die Gegenwart ist das Scharnier dazu.
Märchen, Alltagsgeschichte, Einsichten und den Blick auf eine entschwundene Lebensweise sind hier zu einem außergewöhnlichen Buch zum Anschauen und Erzählen zusammengewachsen. Die Ausstattung ist so schön, dass man das Buch gleichermaßen lieben und bestaunen kann. Ob man sich auf den kurzen Text beschränkt oder sich zu längeren Ausführungen anregen lässt, ob man die Bilder schweigend und kommentierend betrachten will, bleibt den Leserinnen überlassen.
Say lädt ein, Jiichan auf seiner Reise zu begleiten, wieder und wieder. Auch beim wiederholten Anschauen verliert das Buch nichts von seinem Reiz und seiner Gedankenwelt, ganz gleich, wie alt die Leserinnen und Betrachterinnen sind. Gute Geschichten sind gut für alle.
Titelangaben
Allen Say: Der Kamishibai-Mann
(2005 Kamishibai Man, a.d US-Amerikanischen übers. von Gabriela Bracklo)
Gräfelfing: Edition Bracklo 2015
40 Seiten, 29,80 Euro
Bilderbuch ab 4 Jahren
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