Soll man schlafende Hunde wecken, in der unabänderlichen Vergangenheit herumstochern? Der längst dem Proletariermilieu entwachsene Frank wagt sich auf Spurensuche in die dunklen Ecken der Familiengeschichte – und die liegt in Beifang. Martin Simons´ neuer Roman entzieht sich jeder Ruhrpott-Sentimentalität und Larmoyanz, zeigt jedoch unverhohlen, wie Traumata und Verletzungen über Generationen hinweg weitergereicht werden. Von INGEBORG JAISER
Einem Roman ein scharfsinniges John-Burnside-Zitat voranzustellen, weist schon einmal die Richtung. Doch dann dieser Titel, zunächst irreführend und mehrdeutig. Denn als Beifang gilt, was »ungewollt ins Netz geraten ist, als Abfall zurückgelassen wird, stirbt – oder schwer verletzt überlebt.« Beifang heißt aber auch ein Stadtteil der Gemeinde Selm, am nördlichen Rande des Ruhrgebiets gelegen, von einer düsteren Zechensiedlung geprägt. Nicht unbedingt ein malerischer Ort, um seine Kindheit zu verbringen.
Längst ist der als Erster seiner Familie mit Abitur und Studium gesegnete Frank Zimmermann nach Berlin gezogen, wo er als mäßig erfolgreicher Werbetexter in einer unmöblierten Wohnung mit kargem Blick auf eine Brandmauer vor sich hindümpelt und sachte der Schwermut verfällt. Ehefrau und Sohn haben sich weitgehend aus seinem Leben verabschiedet, dessen Rat- und Ziellosigkeit nur noch von Handyspielen und obsessiven Putzorgien durchbrochen wird. Allein die Geliebte Marie bringt mit ihren sporadischen Besuchen etwas Leichtigkeit in die zähe Tristesse der Tage. Bis ein überraschender Anruf von Vater Otto eine Reise in die Heimat unumgänglich macht.
Topographie einer Kindheit
Die Rückkehr des verlorenen Sohnes als literarisches und künstlerisches Motiv hat eine lange Tradition. Doch kein Krankheits-, Todes- oder Erbfall, nicht einmal Reue oder Sentimentalität treiben Frank zurück – eher ein handfester, praktischer Grund: Seine Eltern haben ihr Zechenhaus in der Bergarbeitersiedlung verkauft, um in eine Senioreneinrichtung umzuziehen. Eine willkommene Gelegenheit, noch einmal auszusondern und die Vergangenheit hinter sich zu lassen.
Eine schuhkartongroße Holzkiste, mit roter Dielenfarbe lackiert, ist das einzige Relikt, das an Großvater Winfried erinnert, an den Frank kaum Erinnerungen mehr hat. Und doch treiben ihn das hartnäckige Schweigen des Vaters, dessen verstockte Hilflosigkeit und Selbstverleugnung an, endlich nachzuforschen. »Ich wusste ja nicht, was es ihn gekostet hatte, die eigene Vergangenheit zu überleben. Ich wusste bloß, dass er offensichtlich versuchte, keine Schwächen zuzugeben und den Blick zurück zu meiden.«
Es war alles anders
Allein beim Lesen stockt einem schon der Atem. Was mag wohl die Großeltern Winfried und Rosa bewegt haben, zwölf Kinder in die Welt zu setzen (die man in der Siedlung »Karnickel« nannte), um sie auf den 60 Quadratmetern einer Zechenhaushälfte in allergrößter Armut und purer Verwahrlosung zusammenzudrängen. Die Säuglinge wurden statt in Windeln in Zeitungspapier gewickelt, das man aus den Mülltonnen der Nachbarn klaubte. Zu essen gab es an vielen Tagen nur ein einziges Brot, das nicht einmal für das Frühstück reichte. Selbst der in der Zeche schuftende Winfried musste als Hungerkünstler mit zwei »Margarine-Knifften« über den Tag kommen. Und während in der Wirtschaftswunderzeit andere Familien Fernwärme und fließend Wasser bekamen, blieb der Familie Zimmermann eine Wasserpumpe am Straßenrand und ein Plumpsklo im Garten.
Schlafende Hunde wecken
Franks Nachforschungen geraten zur wechselvollen Spurensuche im Dickicht brüchiger Familienbande. Unter den zahlreichen Onkel und Tanten befinden sich Frühinvaliden und Loser, verkappte Künstler und verkannte Genies, die von einer bitterarmen Kindheit und Jugend berichten, geprägt von roher Gewalt, Brutalität, ja vielleicht sogar Vatermord. Sie alle haben wie zufällig als »Beifang« überlebt, mal traumatisiert und verwundet, mal stolz dem Überstandenen trotzend. Doch im Aufspüren dunkler Kapitel der Familiengeschichte, in der Überlagerung unterschiedlicher Blickwinkel und Sichtweisen, findet sich eine immer wiederkehrende Aussage: Es war alles anders.
Der Autor Martin Simons – selbst in Selm aufgewachsen und inzwischen in Berlin lebend – beweist sich in Beifang als glaubwürdiger, zuverlässiger Erzähler, auch wenn sein Roman nicht auf der aktuellen Welle der Autofiktionalität schwimmt, sondern eher als aufschlussreiche Milieu- und Sozialstudie gelesen werden kann. Hier manifestieren sich vererbte Traumata und verdrängte Ängste noch in den nächsten Generationen als Beziehungsunfähigkeit und Orientierungslosigkeit. Alles schon vielfach erlebt, durchlitten und festgehalten, vielleicht an anderen Orten und zu anderen Zeiten? Als Vater Otto einmal Frank McCourts Die Asche meiner Mutter geschenkt bekommt, meint er nur lapidar: »Bei uns war es schlimmer.«
Titelangaben
Martin Simons: Beifang
Berlin: Aufbau Verlag 2022
234 Seiten. 22 Euro
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