Roman | Thommie Bayer: Die kurzen und die langen Jahre
Als Rock-Poet, Journalist, Drehbuchschreiber und Maler ist der Autor Thommie Bayer ein wahrer Tausendsassa. Sein neuester Roman Die kurzen und die langen Jahre kreist erneut um die ganz großen Themen: Liebe und Musik. Eine melancholische Zeitgeistreise ist er ohnehin. Von INGEBORG JAISER
1974. Es ist die Zeit von Pink Floyd und Patchouliduft, von Palästinensertüchern und Parkas. In den Autoradios der klapprigen VW-Käfer und Renault 16 läuft Hannes Wader. Auf höchst ungewöhnliche Weise (davon später mehr) lernt der 22jährige Simon Stiller die 8 Jahre ältere Sylvie Spengler kennen. Von der Musikhochschule abgelehnt, schlägt sich Simon als Klavierstimmer und Hiwi in einem Musikladen in Konstanz durch. Die aus Lindau stammende Sylvie mit dem wehenden roten Haar und der bunten Hippietasche kann mit einigen entscheidenden Jahren Vorsprung an Welterfahrenheit und Coolness punkten.
Was sie beide verbindet: Simons Vater und Sylvies Ehemann Konrad wurden ermordet in einer Hütte auf dem Feldberg gefunden. Pikantes Detail: offenbar waren beide Männer homosexuell und ein heimliches Paar.
Briefwechsel zwischen Seelenverwandten
Zusammengeschweißt durch diese außergewöhnliche Gewalttat, entspinnt sich zwischen Simon und Sylvie ein vorsichtiger Austausch, eine behutsame Annäherung. Noch sind weder Handys noch Internet erfunden. So entwickelt sich ein handschriftlicher Briefverkehr zwischen zwei Menschen, die nach und nach ihre Seelenverwandtschaft erkennen. Trotz tiefer emotionaler Verbundenheit – mit durchaus erotischem Unterton – bleibt ihre Beziehung platonisch. Stattdessen bahnt sich eine feste Liaison zwischen Sylvie und Simons bestem Freund Manni an, der mit seiner Band bald wachsende Erfolge feiert.
Doch wie ein roter Faden durchzieht und begleitet der innige Briefwechsel die weiteren Geschehnisse, persönliche wie politische. Wechselnde Freundschaften, Affären und eine Abtreibung hier, RAF-Fahndungsplakate und die Ermordung von Hanns Martin Schleyer dort. Dabei wird die Sicht des Ich-Erzählers Simon stets durch die Außenperspektive von Sylvies Briefen ergänzt. Lang und prosaisch ziehen sich die Siebziger Jahre dahin, gefolgt von einem wahren Stakkato an Ereignisse in den folgenden kurzen Dekaden: Hochzeiten, Todesfälle, Geburten und neue (Wahl)-Verwandtschaften auf beiden Seiten. Bis es im neuen Jahrtausend zu einer überraschenden Auflösung des früheren Doppelmordes kommt.
Nostalgische Zeitreise
Thommie Bayer schreibt überzeugend über die Themen, die er von jeher beherrscht: Liebe und Musik; schrammt jedoch genial dilettierend an einem Genre vorbei, das nicht das seinige ist: Krimi. Macht nichts. Sein inzwischen wohl 16. Roman gleitet leicht und behende dahin, rührt zuweilen mit leiser Wehmut an, ohne jedoch schmerzhaft in die Tiefe zu gehen.
Wer selbst seine Jugend in den 1970er Jahren verbracht hat, mag sich in nostalgischer Erinnerung weiden, beim erstaunten Nachvollziehen der Entwicklung des Musikgeschmacks, der Automarken oder der Kommunikationsformen. Ja, es gab mal Zeiten, in denen man täglich mit pochendem Herzen zum Briefkasten rannte oder unterwegs verzweifelt nach einer Telefonzelle suchte. So werden Die kurzen und die langen Jahre zu einem glaubhaften, nachvollziehbaren Zeitpanorama, gewürzt mit einer guten Prise südwestdeutschem Lokalkolorit. Damit lässt sich sogar die weitgehend abstruse Rahmenhandlung verzeihen.
Titelangaben:
Thommie Bayer: Die kurzen und die langen Jahre
München: Piper 2014
202 Seiten. 17,99 Euro
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