Wahnsinnig verrückte Welt

Roman | Lisa Halliday: Asymmetrie

Was haben eine Schriftstelleromanze und ein amerikanisch-irakischer Doktorand in Gewahrsam gemeinsam? Sie »alle leben ein Leben wie im Slapstick, bedroht von der unerklärlichen Strafe des Todes …« Ist unsere Welt wirklich so aus der Balance geraten? Von MONA KAMPE

Halliday Lisa - Asymmetrie Hanser 350Als die junge Lektoratsassistentin Alice eine Affäre mit dem berühmten, alternden Schriftsteller Ezra Blazer beginnt, liegt in ihr zunächst eine unabhängige Leichtigkeit, eine spontane Verrücktheit – wie es in New York so viele gibt. Komplimenten, Geschenken und aufregenden Stunden folgen jedoch bald Versteckspiele, Heimlichkeiten, Botengänge und Krankenhausaufenthalte.

»Der Himmel blutete rosa, dann violett. Ezra löschte das Licht. »Mary-Alice«, sagte er, mit der sanftestmöglichen Nachsicht. »Du schweigst immer sehr eindrucksvoll, weißt du das?« Alice drehte sich auf den Rücken. Ihre Augen füllten sich mit Tränen. »Ich habe eine Menge Zeit hier verbracht«, sagte sie schließlich.«

Parallel wird die Geduld des Doktoranden Amar Jaafari auf dem Londoner Flughafen Heathrow in Wartesälen und Verhören auf die Probe gestellt. Der junge Amerikaner mit irakischer Staatsbürgerschaft möchte einen befreundeten Journalisten besuchen und anschließend zu seinem Bruder nach Sulaimaniyya. Dabei wird ihm nicht nur ein Abakus zum Verhängnis, mit dem er die Aufmerksamkeit der europäischen Behörden auf sich zieht.

»Außerdem überlege ich, mich in ein öffentliches Amt wählen zu lassen. Lalwani nickte jetzt irgendwie beeindruckt und bewundernd, und nachdem ich meine Turnschuhe geschnürt und mich wieder aufgerichtet hatte, kniff er professorenhaft die Augen zusammen, als würde er sich etwas längst Vergangenes in Erinnerung rufen, und sagte ein wenig theatralisch: »Ich beherrsche die Kunst des Wahrsagens nicht. Wer kann schon die Sicht von vier-, fünfhundert Jahren einschätzen, wie alles funktionieren wird. Aber eines ist sicher: Papisten könnten dieses Amt bekleiden und selbst Mohammedaner könnten es. Ich wüsste nicht, was dagegen spräche.«

Polaritäten und Ungleichgewichte unserer Zeit

Was vereint diese scheinbar ungleichen Lebensausschnitte? Macht und Ohnmacht? Herkunft und Status? Privates und Politisches? Der US-amerikanischen Autorin Lisa Halliday gelingt mit ihrem Debütroman ›Asymmetrie‹ die exemplarische Veranschaulichung aktueller Gesellschaftsdiskussionen in zwei Puzzleteilen, die erst auf den zweiten Blick ein stimmiges Bild ergeben.

»Wir alle leben ein Leben wie im Slapstick, bedroht von der unerklärlichen Strafe des Todes…« Denn unsere Welt ist aus den Fugen geraten, überall treffen wir auf Ungleichgewichte und Polaritäten, beeinflusst von Macht, Politik und Glück. Anhand der persönlichen Geschichten beider Protagonisten vermag Halliday eine brisante, eindrucksvolle und fesselnde Collage unserer komplexen, wahnsinnig verrückten Zeit zu zeichnen, die zum Nachdenken, Verstehen und Handeln bewegt.

| MONA KAMPE

Titelangaben
Lisa Halliday: Asymmetrie
Aus dem Englischen von Stefanie Jacobs
München: Carl Hanser Verlag 2018
2. Auflage, 320 Seiten, 23 Euro
| Erwerben Sie dieses Buch portofrei bei Osiander

Reinschauen
| Leseprobe

Ihre Meinung

Your email address will not be published.

Voriger Artikel

Gedankenfutter, abgedreht serviert

Nächster Artikel

Fragmente der Abwesenheit

Weitere Artikel der Kategorie »Roman«

Literatur – ein Spiel

Roman | Tanguy Viel: Das Verschwinden des Jim Sullivan. Ein amerikanischer Roman Tanguy Viel schreibt seit einigen Jahren kürzere Romane. In seinem neuesten Buch ›Das Verschwinden des Jim Sullivan‹, das wieder bei Wagenbach erschienen ist, treibt er sein Spiel mit den »Kochrezepten« amerikanischer Schreibfabriken und führt diese ad absurdum. Sein »amerikanischer Roman« ist dennoch zutiefst französisch. Von HUBERT HOLZMANN

Kammerspiel des Bösen

Roman | Richard Flanagan: Der Erzähler Der australische Autor Richard Flanagan ist erst durch seinen mit dem Booker-Preis ausgezeichneten Roman Der schmale Pfad durchs Hinterland (2014) hierzulande bekannt geworden – ein beeindruckendes und unter die Haut gehendes Werk über die Grausamkeiten in einem japanischen Kriegsgefangenenlager im Grenzgebiet zwischen Thailand und Birma. Zuletzt war von ihm 2016 der Roman Die unbekannte Terroristin in deutscher Übersetzung erschienen, in dem es um Vorverurteilungen, Denunziationen und kanalisierten Hass gegen eine junge Frau geht. Von PETER MOHR

Der vierte Streich des Rentnerclubs

Roman | Richard Osman: Der Donnerstagsmordclub oder Ein Teufel stirbt immer zuletzt

Sie sind gerade auf Entzug, denn ein ganzes Jahr lang haben sie ohne Mord leben müssen. Da geschieht es endlich wieder: Ein Antiquitätenhändler musste ins Gras beißen. Mit fast 80 Lebensjahren trotzdem kein würdiger Abschluss für Kuldesh Sharma. Aber ein guter Grund, um den Donnerstagsmordclub zum vierten Mal in ein gefährliches Abenteuer zu stürzen. Und natürlich sind sie alle vier – Joyce, die Ex-Spionin, Elisabeth, die so gern Schriftstellerin wäre, der »Rote Ron« und Psychiater Ibrahim – wieder dabei. Denn ohne das Quartett aus der Seniorensiedlung Coopers Chase wäre die Südostküste des Vereinigten Königreichs ein kriminelles Sodom und Gomorrha. Von DIETMAR JACOBSEN

Das Vergehen der Zeit

Roman | Gregor Sander: Alles richtig gemacht »Es interessiert mich beim Erzählen: das Vergehen von Zeit. Und was es mit Menschen macht«, bekundete der 51-jährige Schriftsteller Gregor Sander kürzlich in einem Interview über seinen nun erschienenen dritten Roman. Nach einer Schlosserlehre hatte er zunächst in Rostock Medizin studiert und war dann (wie seine Protagonisten) nach Berlin gezogen und zur Germanistik und Philosophie gewechselt. PETER MOHR über Gregor Sanders neuen Roman ›Alles richtig gemacht‹

Minnedienst oder Heulen im Wind

Roman | Uwe Timm: Vogelweide Würde man Uwe Timms Helden in seinem neuen Roman Vogelweide einer bestimmten Großwetterlage aussetzen, so doch eher einer, die durch einen fallenden Barometerstand angezeigt wird. Ob sich Eschenbach – so heißt der nicht nur vom Wetter Geplagte – nun dem Tief Bea, Selma oder Anna aussetzt, immer scheint er auch einem femininen Gegenwind zu trotzen. Die Geschichte über einen Steh-auf-Mann der besonderen Art hat HUBERT HOLZMANN gelesen.