Comic | Antonia Kühn: Lichtung
Der kleine Paul kann sich kaum an den ein paar Jahre zurückliegenden Tod seiner Mutter erinnern. Gibt es eine Lichtung im Schatten der Erinnerung? In ihrer ersten größeren Comicerzählung ›Lichtung‹ blickt Antonia Kühn einfühlsam und vielschichtig unter den schwarzen Schleier, der die Erinnerungen des kleinen Paul und seiner Familie trübt. Von BIRTE FÖRSTER
Familien sind komplexe Geflechte. Es sind Konstrukte, in denen Vergangenes und Gegenwärtiges, Fragen und fehlende Antworten, Perspektiven und Vorstellungen aufeinandertreffen. In einem solchen Wirrwarr versucht der elfjährige Paul, seine Rolle zu finden. Der Tod seiner Mutter vor mehreren Jahren wird in der Familie verschwiegen und ist doch ständig präsent. In alten Fotos und Briefen, die Paul in einer Schachtel findet, begibt er sich auf die Suche. Er sucht nach Antworten über den Tod der Mutter. Antworten, die ihm weder sein abwesender und viel arbeitender Vater noch seine pubertierende Schwester Laura, die immer mehr in kriminelle Milieus abzurutschen droht, geben können.
In ihrer Graphic Novel ›Lichtung‹ nähert sich Comic-Zeichnerin Antonia Kühn Schritt für Schritt dem Zusammenleben einer Familie, das von der Vergangenheit verschluckt zu werden scheint. Dabei legt sie die Beziehungen zwischen Paul, seiner Schwester und dem Vater offen, die durch das Fehlen der Mutter durcheinandergeraten sind.
Nicht gut Kuchen Essen
Die beklemmende Stimmung in der Familie tritt beim Geburtstag der Mutter deutlich zutage. Während sich Laura den Feierlichkeiten entzieht, die ohnehin immer mehr auf Distanz zu Vater und Bruder geht, drängt der Vater seinem Sohn auf, das Gedenken an die Mutter zu zelebrieren. Zusammen essen sie Kuchen, um ihren Geburtstag zu feiern. Als Paul keinen mehr möchte, sagt der Vater: »Na los, jeder noch ein Stück. Als du klein warst, hast du manchmal vier davon verputzt.«Und fügt hinzu: »Für Mama«.
Paul fühlt sich sichtlich zerrieben, zwischen der Präsenz der toten Mutter und seinem heutigen Leben. Sein ohnmächtiger Gesichtsausdruck zwischen den beiden Scheiben »Kalter Hund«, dessen gleichmäßige Biskuit-Schichten in harte Zacken übergehen, geben sein Gefühlschaos wieder. Die Mutter ist allgegenwärtig, aber über Verlustgefühle und Trauer wird nicht gesprochen. Ohnehin scheint der Vater wenig Zeit dafür zu haben. Durch seine Schichtarbeit in der Fabrik verbringt Paul seine Zeit am Nachmittag oft allein zu Haus. Schwester Laura ist fast nur noch mit ihrer Clique unterwegs und bleibt inzwischen oft auch über Nacht weg.
In einem Gespräch mit Lauras Lehrerin erfährt der Vater von der Mittäterschaft seiner Tochter bei einem Einbruch. Diese bringt zur Sprache, worum es eigentlich geht: Dass die Mutter Suizid begangen hat und Laura diesen womöglich noch nicht verarbeitet hat. Lakonisch antwortet der Vater: »Es war ein Unfall. Meine Frau – sie hat sich nicht umgebracht. Damals.«
Hat auch er selbst das Geschehene noch nicht verarbeitet? »Jeder hat seinen eigenen Blick auf bestimmte Ereignisse und seine eigene Version davon«, sagt Zeichnerin Kühn im Gespräch. In seiner Wahrnehmung sei es eben kein Suizid gewesen. Gleichzeitig spiele seine eigene Überforderung mit der Situation hinein. »Es war mir wichtig, dass alle zu Wort kommen und dass die Situation auch mal aus jedem Blickwinkel betrachtet wird«, erklärt Kühn. So schildert sie eine Szene, die die beiden Geschwister kurz vor dem Tod mit der Mutter erlebten, zweimal. Die Abweichungen zeigen, dass jeder das Geschehene aus einer anderen Perspektive betrachtet. Schließlich habe »jeder seine eigene Erinnerung«.
Überschattete Erinnerung
Auch Kühns Erinnerungen spielten bei der Geschichte eine Rolle. Die Idee zu der Graphic Novel – mit 256 Seiten ihr erstes langes Werk – sei bei der Auseinandersetzung mit der eigenen Familiengeschichte entstanden, erzählt Kühn, die in Kiel Kommunikationsdesign und an der HAW Hamburg Illustration studiert hat. »Die Grundidee ist durch eine Fotoschachtel ausgelöst worden, die ich bei meiner Familie gefunden habe und die mich sehr fasziniert hat«, sagt die 38-jährige Zeichnerin. Sie sei auf Bilder gestoßen, die sie zuvor noch nie gesehen hatte. Ein Prozess kam ins Rollen und sie fing an darüber nachzudenken, was in ihrer eigenen Familiengeschichte alles so passiert ist.
Über mehrere Jahre hat sie die Geschichte von Paul und seiner Familie dann Stück für Stück weiterentwickelt. Als sie für ihren Sohn, der während ihrer Arbeit an dem Projekt zur Welt kam, ein Mobile bastelte, kam ihr der Einfall zu einem immer wiederkehrenden Motiv in »Lichtung«: eine vogelartige Figur mit kreisrundem Kopf und Schnabel, die aus einem Mobile herausgetrennt wurde. Diese verbindet Paul mit frühesten Kindheitserinnerungen, als Metapher steht die Figur für die fehlende Mutter. »Das hat sich dann immer breiter gemacht und sich als Ebene in dem Buch manifestiert«, beschreibt Kühn ihren Schaffensprozess.
In ihrer Umsetzung der größtenteils aus Pauls Perspektive erzählten Familiengeschichte schafft Zeichnerin Kühn eine beeindruckende Vielschichtigkeit und kommt dabei fast ohne Worte aus. In ihren schwarz-weißen Zeichnungen entsteht eine kraftvolle Symbolsprache, die Gedanken, Emotionen und Eindrücke widerspiegelt und diese in freien Assoziationen verwebt. In ganzseitigen Bildern verschwimmen Fotoausschnitte aus fröhlichen Tagen vor dem Tod der Mutter, unweit einer Lichtung im Wald aufgenommen, mit grotesken Figuren, die schemenhaft eine Art Totentanz aufführen.
Kühn präsentiert in vielen Szenen Fragmente aus heutigen Erlebnissen, Erinnerungen an früher und traumartigen Sequenzen. Diese Fragmente, vielmehr Andeutungen als Antworten, lassen viele Fragen offen. Pauls eigene Ratlosigkeit ergreift somit auch den Leser. »Es gibt keine 100-prozentige Verbindlichkeit«, sagt sie. Ihre Intention sei nicht gewesen, am Ende wie bei einem Krimi eine Auflösung zu präsentieren. Schließlich werde genauso wenig in der Realität immer alles aufgeklärt, wenn man sich auf die Suche begibt, meint Kühn. »Das funktioniert auch im Leben so nicht.«
Titelangaben
Antonia Kühn: Lichtung
Berlin: Reprodukt 2018
256 Seiten. 24 Euro.
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