Bei einem Titel wie ›Blood of the Virgin‹ klopft das Herz von Genre-Film-Freunden gleich deutlich schneller. Und tatsächlich verfrachtet einen Sammy Harkhams so getaufter Comic, der in deutscher Sprache bei Reprodukt erschien, an das Set eines Exploitationfilms in den frühen Siebzigern. Der junge Cutter Seymor verdingt sich dort. Und versucht, beim Spagat zwischen Familienleben und Showbiz nicht unter die Räder zu kommen. CHRISTIAN NEUBERT hat ihm dabei über die Schulter geschaut.
There’s no business like show business: In Los Angeles weiß das jeder. Es gilt, seit Filme auf Leinwände projiziert werden – in den großen Studios der Traumfabrik Hollywood, aber ebenso in den kleinen B-Movie-Klitschen, wo reißerischer Genre-Kram am Fließband gedreht wird. Davon kann auch Seymor ein Lied singen: Anfang der Siebziger Jahre, in der Hochzeit des Exploitationkinos, verdingt er sich als Cutter für den Produzenten Val. Für ihn heißt das in erster Linie: Trailer schneiden, ohne genaue Kenntnisse über die zugrunde liegenden Filme. Aber so war das eben, frag Roger Corman!
Seymor ist ambitioniert – und nicht zuletzt auch Fan der Genre-Streifen. Den undankbaren Job betrachtet er als Chance und Sprungbrett. Er will selbst Filmemacher sein – und hat sein erstes eigenes Drehbuch schon in petto. Glücklicherweise meint es das Schicksal dann auch wirklich gut mit ihm: Val möchte sein Skript verfilmen. Zwar lediglich aus Zeitnot und Ermangelung anderer Stoffe, aber immerhin. Seymor muss es nur noch umschreiben, und zwar schnell: Der Dreh von ›Blood of the Virgin‹, so der Titel, beginnt schon in einer Woche – und spielt obendrein in einem anderen Genre.
Katastrophenfilm
Dies sind nicht die einzigen Unwegsamkeiten, mit denen Seymor zurechtkommen muss. Ihn erwarten Zeitdruck, lausige Requisiten, Amateure am Set sowie ein Cast, dem kurz vor dem Ende der Hauptdarsteller wegbricht. Dann wird Seymor auch noch während der laufenden Dreharbeiten der Regiestuhl angeboten. Eigentlich wird ihm der Posten eher aufgenötigt, aber egal: Er ist endlich da, wo er immer hinwollte. Ob nun alles gut wird? Vergiss es! Wie sind hier nicht in Hollywood.
Auch zu Hause gerät Seymor zunehmend unter Druck, weil auch der Alltag als junger Familienvater seinen Tribut fordert. Sein Sohn ist noch im Säuglingsalter, und die Beziehung zu seiner Frau Ida ziemlich angespannt. Damit ihm die Arbeit nicht endgültig über den Kopf wächst, betreibt er umso mehr Raubbau am ohnehin schon strapazierten Familienleben. Auch mit der Treue nimmt er es nicht so genau – zumal er offenbar ein Auge auf die Schauspielerin Joy geworfen hat. Die unvermeidliche Zeitbombe tickt immer lauter – und Seymor selbst ist der Zünder.
Großes Kino auf 300 Seiten
In den richtigen Händen klingt all das nach großem Kino – und nach gutem Comic-Stoff. Und ja: Sammy Harkham als Zeichner und Szenarist in Personalunion versteht es gut, die vielen Facetten der Handlung zu einer starken Erzählung zu verknüpfen. ›Blood of the Virgin‹ ist ein feinfühlig beobachteter Comic zwischen Ligne Claire und cartooneskem Strich, dem es immer wieder gelingt, komplexe Gefühlswelten in kurze Panelfolgen zu packen. Und auch wenn er mit einem Bein fest in der Filmwelt steht, erzählt er im Grunde ein vielschichtiges Beziehungsdrama. Wie bei vielen guten Genre-Vertretern ist seine zugrundeliegende Gattung also lediglich Ausgangspunkt und Vehikel.

© Reprodukt
Ein kleines Stück weit krankt ›Blood of the Virgin‹ zwar an der Fülle an Nebenhandlungen. Manchmal wirkt er unnötig aufgeladen und sprunghaft, was das Lesen hie und da etwas erschwert. Ein versierter Cutter wie Seymor hätte aus dem Stoff vielleicht noch mehr rausholen können. Aber sei´s drum: ›Blood of the Virgin‹ ist eine interessant inszenierte Geschichte über eine Beziehung am Abgrund, angesiedelt in der Blütezeit des Exploitationfilms. Er lässt in eine vergangene Ära blicken, während er Einblicke in eine lebensnahe, realistisch gezeichnete Beziehungskiste gewährt. Und auch wenn meist ein melancholischer Schleier über der Erzählung liegt, findet der Comic Raum für Slapstick und Situationskomik. Reißerische Momente, wie sie der (Film-)titel suggeriert, sind zwar ausgesprochen selten, aber das macht nichts: Erstens kennt man das vom Genre-Kino. Und zweitens ist ›Blood of the Virgin‹ gerade in seinen leisen Momenten am besten.
Titelangaben
Sammy Harkham: Blood of the Virgin
Aus dem Amerikanischen von Lukas Elstermann
Berlin: Reprodukt 2023
296 Seiten, 39 Euro
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