Comic | Gion Capeder: Superman
Mit ›Superman‹, erschienen in der Edition Moderne, seziert der schweizer Comic-Künstler Gion Capeder den Alltag eines Erfolgssüchtigen mit dem akkuraten Strich der Ligne Claire. Die Abgründe, die er dabei offenlegt, verschließen sich allerdings der Küchenpsychologie. Zum Glück, findet CHRISTIAN NEUBERT
Seine Mittagspause hat etwas länger gedauert. Kein Wunder: Es gab Sex. Da nimmt Chris gerne noch einen Nachschlag. Man weiß nicht recht, ob er noch schelmisch grinst oder schon diabolisch, als er sich wieder anzieht. Dass er zu spät zurück zum Dienst, dass er niemanden über sein Fernbleiben in Kenntnis setzt, kann er sich leisten. Das verzeiht man ihm schon mal. Denn Chris ist ein Held der Arbeit, vielleicht sogar ein Superheld. Einer, der auf der Karriereleiter schon mal zwei Stufen auf einmal nimmt. Einige Stellen an der schwarzen Zahl, die seine Firma schreibt, verdankt sie offenbar ihm. Er kommt daher als künftiger Filialleiter infrage. Sein ständiges Auf und Ab müsse dann allerdings aufhören. Man muss sich doch auf ihn verlassen können, sagt sein Vorgesetzter. Ohne Wenn und Aber.
Wenns und Abers gibt es jedoch viele in Chris‘ Leben. Sie sind weiblichen Geschlechts. Er begegnet ihnen zum Beispiel am Bahnhof, sieht ihnen hinterher, spricht sie im Café an, verführt sie, lässt sich von ihnen verführen. Zu der Ernsthaftigkeit, mit der er mit Vorgesetzten über seine Karriereplänen spricht, will das nicht so recht passen. Und dann ist da noch seine Familie. Chris ist verheiratet, hat eine Tochter, die er rührend umsorgt. Seine Frau liebt ihn – und ahnt nichts. Weil Chris sein Doppelleben geschickt in seinen Berufsalltag integriert. Stattdessen befürchtet sie, ihn bald gar nicht mehr zu sehen, wenn er nun auch noch befördert wird.
Karriere? Geil
Dennoch schafft es Chris immer, die Gemüter zu beruhigen. Bis auf sein eigenes. Denn die Rettungsmaßnahmen, die die abgetrennten Fassaden seines Doppellebens nicht kollidieren lassen, sind immer häufiger fällig. Weil Chris dem steigenden Erfolgsdruck mit noch mehr Ausschweifungen begegnet. Das selbst verschuldete Chaos lässt sich immer schwieriger in seinen klar strukturierten Alltag integrieren. Trotz seines gelassenen Auftretens wachsen ihm seine Verfehlungen über den Kopf. Indem sie in seinem Kopf wuchern. Und dabei erschreckende Blüten treiben. Weil sich in Chris‘ Tagträumen, die sich bisher in sexuellen Eskapaden erschöpfen, zunehmend verstörende Gewaltphantasien schleichen.
Starke Entdeckung
Der Schweizer Comickünstler Gion Capeder hat mit ›Superman‹, seiner zweiten längeren Comicveröffentlichung, ein tadellos durchkomponiertes Werk geschaffen. Es thematisiert eine unberechenbare Eskalation in einem streng kalkulierenden Milieu, die im Stillen wächst und sich eher als Implosion denn als Detonation entlädt. Festgehalten ist es in der formalen Strenge der Ligne Claire. Gerade deren amerikanische Vertreter scheinen es Capeder angetan zu haben. Er tritt in die stilistischen Fußstapfen von Daniel Clowes, Chris Ware und Adrian Tomine. Austrampeln ist aber nicht sein Ding. Er beschreitet seine Wege konsequent, auch in seiner Farbgebung. ›Superman‹ ist flächig koloriert, monochrom und kühl, als direkte Entsprechung des tristen Arbeitsalltags, in dem sich Chris stets cool zu geben weiß.
Einzig die sich häufenden Gewaltphantasien brechen aus diesem Schema aus. Sie gleichen in ihrer Unmittelbarkeit fast den kindlichen Strichen, mit denen Chris‘ Tochter ihren Vater als Superman darstellt. Ob er sich sein Kryptonit nun selbst schafft, oder ob es längst in unserer Leistungsgesellschaft in Serie geht: Fragen wie diese begleiten die Lektüre dieses Comics bis zu seinem überraschenden Ende. Auf einfache Antworten wird dabei verzichtet.
Titelangaben
Gion Capeder: Superman
Aus dem Französischen von Christoph Schuler
Zürich: Edition Moderne 2017
120 Seiten. 28 Euro
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