Gedankenfutter, abgedreht serviert

Kinderbuch | Ross Montgomery: Die Tornadojäger

Übertreibung ist ein patentes Mittel, verzwickte Probleme deutlich zu machen. Ausgeprägtes Beschützerverhalten von Eltern kann sich tatsächlich zum Problem auswachsen. Ob Kinder etwas dagegen tun können? Ross Montgomery hat sich Spektakuläres einfallen lassen, um mitten im Wirbelsturm philosophische Fragen zu diskutieren. Von MAGALI HEIẞLER

TornadojägerOwen sitzt eingesperrt in seinem Zimmer, einen Schutzhelm auf dem Kopf. Alle Ecken und Kanten im Raum sind gepolstert. Als ob das nicht genügte, steht das Haus im sichersten Städtchen des Landes. Seine Eltern sind mit ihm dorthin gezogen, um ihn vor sich und den bösen Tornados zu schützen. Natürlich gibt es auch noch Bären, mindestens so böse wie die Tornados, die Kinder töten, wenn diese sich zu weit fort wagen oder, oh, Entsetzen, sich nicht an die vielen, vielen Regeln und Gesetze zur Sicherheit halten, die im Städtchen eingehalten werden müssen. Wenn die Bären das schlimme Kind nicht erwischen, dann bestimmt die Polizei, die es umgehend ins Jugendbezirksgefängnis sperrt. Sicherheit ist oberstes Gebot!

Owen, am Rand der Verzweiflung, hätte nie geglaubt, dass ausgerechnet Sicherheitsgesetze dazu führen, dass er zusammen mit vier anderen Kindern heimlich einen Club der Aufständischen gründet, mit dem erklärten Ziel, einen Tornado live zu sehen. Aber so geschieht es und damit beginnt das größte Abenteuer.

Dystopie und Slapstick

Düstere Überzeichnungen des Alltagslebens gekoppelt mit Clowneskem, Skurrilem, Grotesken sind spätestens seit Louis Sachar sicher im Kinderbuch angekommen. Montgomery steht den Vorläufern in nichts nach, im Gegenteil bringt er das Genre um ein paar Zentimeter zu neuen Höhen. Er neckt sein Publikum gleich zu Beginn mit einem raffinierten erzählerischen Köder, den man ahnungslos schluckt und dessen Haken man erst sehr spät im Handlungsverlauf spürt. Dabei ist die köstliche Verwirrung zu diesem Zeitpunkt schon groß genug.

Die Welt, die vorgestellt wird, ist entschieden düster. Das Gefühl des Eingesperrtseins lässt sich umgehend nachempfinden, während Owen die beschützerischen Absurditäten, zu der sich seine Eltern verstiegen haben, aufzählt. Seine Eltern sind nicht die einzigen, die merkwürdig sind. Die ganze Stadt lebt im Schutzwahn. Umgeben von Tornadofallen, durchweht von Bärenangst, unablässig ermahnt, gemaßregelt, überwacht von Lehrerinnen, Polizisten und bedroht vom namenlosen Aufseher fehlt den Kindern die Luft zum Atmen. Selbstverständlich meinen es die Erwachsenen nur gut, auch das etwas, das kleine Leserinnen und Leser sofort verstehen werden mitsamt der daran hängenden Problematik.

Montgomery zeichnet seine kleinen Heldinnen und Helden vornehmlich anhand ihrer Zwistigkeiten. Unsere fünf sind sich alles andere als sympathisch. Kleine Bissigkeiten halten fast bis zum Ende an, das ist realistisch. Ein gemeinsames Ziel macht Menschen nicht automatisch zu Wesen, die einander nur innige Liebe entgegenbringen.

Stärken und Schwächen der Figuren sind gut ausbalanciert, vor allem wesentlicher Bestandteil der Handlung. Dinge geschehen, wie sie geschehen, weil die Hauptpersonen diejenigen sind, die sie sind. Die Kinder wirken auf Geschehnisse ein, ihre Eigenschaften bringen Veränderung, treiben vorwärts, bewirken Stillstand oder auch abrupte Richtungswechsel. Die Kinder sind Individuen, während die Erwachsenen sich kaum noch voneinander unterscheiden, normiert durch ihren Sicherheitswahn. Die Kinder entwickeln sich, sie haben diese Fähigkeit nicht verlernt bzw. weggedrängt aus lauter Angst vor dem Leben. Sie ergeben sich nicht und schon gar nicht dem großen Gefängnis der steten Ängste, die doch nur die Ängste anderer sind.

Ein Klassenausflug in den Zoo, etwa, wo es einen – angeblich – hochgefährlichen Bären zu besichtigen gibt, kann nur durchgeführt werden, wenn die Kinder je zu zweien aneinandergefesselt sind. Wie es dann doch zum Bruch des Gesetzes gegen unstatthaften Gebrauch von Bären kommt, ist gleichermaßen verrückt ausgedacht wie rasant erzählt. Obwohl es recht früh im Handlungsverlauf geschieht, glaubt man Montgomery zu diesem Zeitpunkt ohnehin schon alles. Die amüsante und temperamentvolle zeichnerische Umsetzung von Daniela Kohl setzt Figuren wie Geschehnisse durchgängig fast filmreif ins Bild.

Was macht das Leben aus?

Natürlich stattet Montgomery seine Heldinnen und Helden mit übermenschlichen Fähigkeiten aus. Orlaith z. B. ist eine hochbegabte Ingenieurin, hier sind die Tarnräder zu erwähnen, Peter hat riesige Kräfte, Owen klettert auf Bäume, dass Eichhörnchen neidisch werden können. Vor allem aber hat die kleine Bande unermesslich viel Mut. Der bemisst sich weniger an dem, was sie anstellen, um ihren Plan durchzuführen, als in ihrer Bereitschaft, sich mit voller Kraft dem Leben zu stellen.

Einen Tornado jagen, ist das Bild, das Montgomery wählt für die Auseinandersetzung mit der Frage, was das Leben ausmacht und was es letztlich wert ist. Das Ende ist schlüssig, vom Ausgangspunkt und Aufbau des Romans her, es ist aber auch ein Stein des Anstoßes. Ein Tornado ist, ebenso wenig wie das Leben, beherrschbar. Wer sich kopfüber hineinstürzt, bezahlt dafür. Ob es sich lohnt, für eine wilde, verrückte, intensivst gelebte Zeitspanne alles andere hinzugeben, ist eine harte Frage in einem Kinderbuch. Sie zu stellen kann man dem Autor nicht vorwerfen, der Zuckerguss, mit dem er die letzten Sätze übergießt, dagegen schon. Das ist falscher Trost, der wiederum Gefahren birgt.

Abgesehen davon, dass die Handlung im zweiten Teil des Buchs noch ordentlich Fahrt aufnimmt, spinnt Montgomery auch jenen Faden weiter, an dem der erzähltechnische Köder befestigt war. Die Geschichte muss freilich erzählt werden, von Anfang bis zum Ende. Da es sich um nichts weniger als ein Nachdenken über das Leben handelt, gibt es mehr als ein Ende für einen findigen Kopf. Einen solchen haben wir hier in Insasse 409, der die Geschichte aufschreibt und der seine Gründe hat, warum er zunächst verschiedene Schlüsse entwirft. In diesem Handlungsteil rutscht Montgomery gleichfalls einmal aus, weil er unvermutet um Verständnis für die Position der Erwachsenen wirbt. Das ist bedauerlich, hat er doch zuvor sehr deutlich auf die dünne Grenze zwischen echtem Schutz und brutalem Beherrschen aufmerksam gemacht. Immerhin bieten diesen Inkonsequenzen weiteren Diskussionsstoff.

Bei aller Überdrehtheit, Verrücktheit, dem wilden Gelächter, in das man beim Lesen dieser absurden Geschichte ausbricht, geht es hier nicht nur darum, unterhalten zu werden. Montgomerys Kinderroman enthält sehr viel mehr, auch entschieden Unangenehmes. Ein wenig Mut sollte man mitbringen vor dem wilden Ritt.

| MAGALI HEIẞLER

Titelangaben
Ross Montgomery: Die Tornadojäger
Illustriert von Daniela Kohl
(The Tornado Chasers, 2014). Übersetzt von André Mumot
München: Carl Hanser Verlag 2018
288 Seiten, 15 Euro
Kinderbuch ab 10 Jahren
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