Roman | Verena Boos: Kirchberg
Eine Frau verliert ihre Gesundheit, ihre große Liebe, eine sichere Zukunft. Erschöpft und ernüchtert kehrt sie in ihr Heimatdorf zurück und sucht Unterschlupf im Haus ihrer Kindheit. In ihrem zweiten Roman ›Kirchberg‹ kartographiert Verena Boos die mehrfach verschlungenen, häufig gebrochenen Lebenslinien und Lebensentwürfe mehrerer Generationen. Von INGEBORG JAISER
Es ist Herbst, als Hanna in ihren Heimatort Kirchberg zurückkehrt, einem kleinen schwäbischen Dorf zwischen Schwarzwald und Schwäbischer Alb. Mühsam hangelt sie sich die steilen Treppenstufen zum Berg hinauf und öffnet die Tür zum verwaisten Haus ihrer Großeltern, das nun ihr Haus ist. Verlassenheit, Stille, das »Licht im Raum wie stäubendes Mehl«. Doch nicht nur Melancholie und Beklommenheit überschatten diese Rückkehr, sondern ein ganz anderes Handicap.
Hanna kommt nicht als Erfolgreiche, Arrivierte an, sondern als Versehrte, nach einem Schlaganfall halbseitig gelähmt und der Sprache beraubt. In dieser Abgeschiedenheit, weit entfernt von ihrem letzten Wohnort Berlin und einer Zukunft in Harvard, sucht sie nun Unterschlupf und Rückzug. »Man hat über Jahrhunderte die Dorfdeppen irgendwie durchgebracht, auch, indem man sie in Ruhe machen ließ. Hanna will in Ruhe gelassen werden. Sie will in Ruhe schweigen können.«
Reise ins Fegefeuer
Stück für Stück, in Zehnjahresschritten, wird Hannas Leben vor uns aufgeblättert. Da sich Maria, die leibliche Mutter – zwischen folkloristischem Hippietum und Jetset schwankend – außerstande sieht, ein Kind aufzuziehen, wächst Hanna bei ihren Großeltern im mächtigen Schulhaus auf, zwischen dem erdverbundenen Bauerngarten der Großmutter und der weltoffenen Belesenheit des Großvaters. Später schlägt sie eine wissenschaftliche Laufbahn ein, hangelt sich ehrgeizig von einer Konferenz zur nächsten, von einem Auslandsaufenthalt zum nächsten Stipendium, steht schließlich kurz vorm Abschluss ihrer Habilitation – als sie der Schlag trifft.
»Ihr Handwerk war die Sprache, die eigene und jene der anderen, geschrieben und gesprochen, sie war ihr Thema und ihr Werkzeug und ihr Zeitvertreib.« Welch Ironie des Schicksals, dass nun gerade eine Frau des Wortes verstummt. »Als der Schlaganfall wie eine Bombe zündete, zerstörte er nicht so sehr den Wortspeicher als vielmehr den Zugriff darauf, die Kombination von Lauten zu Sinn, er traf nicht das Magazin, sondern die Logistik.« Im Alter von 40 Jahren, mitten im Leben, kurz vorm Start in die »zweite Spielzeit«.
Alphabet des Nichts
Verena Boos, deren vielbeachtetes Debüt Blutorangen begeistert aufgenommen und mit mehreren Literaturpreisen ausgezeichnet wurde, vermag es auch mit ihrem zweiten Roman ›Kirchberg‹, einen ganz besonderen Sound anzuschlagen. Sie schafft es, mit wenigen Worten – mal sprunghaft dynamisch, mal verhalten poetisch, aber immer treffsicher – eine Szenerie, eine Stimmung heraufzubeschwören.
Wer die Gegend um Verena Boos Geburtsort Rottweil kennt, wird in Kirchberg etwas von der schwäbischen Behäbigkeit wiederfinden, nicht nur in den skizzierten Charakteren, auch in den sorgsam gestreuten Suebizismen, die sich heilend um die beschädigte, lädierte Romanfigur Hanna schmiegen: »Käpsele«, »Butzele«, »Mockel«. Zum Innehalten gezwungen, saugt Hanna die Sprache, die Landschaft, die Ausblicke in sich auf. »Sie hat alle Zeit der Welt für den kleinsten Scheiß. Was anderes ist ihr nicht geblieben.« Selten sind die Folgen eines Schlaganfalls so plastisch und drastisch wie in diesem Roman geschildert worden – doch kühl, ohne Weinerlichkeit.
Kartographie unsichtbarer Spuren
Dass man ›Kirchberg‹ nicht (nur) als Heimatroman lesen kann, liegt an der Verquickung von Historie, Herkunft, Migration – und nicht zuletzt an der allumfassenden Rolle der Liebe, auch wenn sie sich zuweilen als »Karussell aus Anhänglichkeit und Abweisung, Vertrauenwollen und Rückzug, aus radikaler Nähe und sehnsuchtsvoller Distanz« offenbart.
Der Großvater Erich: Sohn einer Heimatvertriebenen. Die Jugendliebe Patrizio: assimilierter Spross des örtlichen Pizzabäckers. Die obsessive Leidenschaft Leo: ein unerreichbarer Wanderer zwischen Orten und Bestimmungen. Die Unterkunft in Berlin: eine prekäre Not-Wohngemeinschaft zur gemeinsamen Finanzierung überteuerter Mietpreise. Die wissenschaftliche Community: »eine Stichprobe des internationalen akademischen Jetsets, mindestens die Hälfte arbeitete nicht im eigenen Land, nicht in der eigenen Sprache, eine Gruppe von Expats, unter denen das Wort Freundschaft verschwenderisch verwendet wurde.«
Wo die Sprache an ihre Grenzen gerät, entsteht Raum für weitere Ausdrucksformen. Nicht umsonst erschafft das Zeichentalent Patrizio ein riesiges Panoramabild als »Landkarte einer kollektiven Erinnerung. Eine Kartographie unsichtbarer Spuren.« Und da Musik immer eine wichtige Rolle spielt, gibt es sogar eine eigene Playlist zu ›Kirchberg‹. Reinhören!
Titelangaben
Verena Boos: Kirchberg
Berlin: Aufbau Verlag 2017
366 Seiten. 22.- Euro
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