Eine Frage der Ehre

Roman | Loraine Peck: Der zweite Sohn

Die Novaks sind 1980 aus Kroatien nach Australien ausgewandert. In der zu Sydney gehörenden westlichen Vorstadt Liverpool City kontrollieren sie inzwischen den Handel mit Partydrogen und waschen Geld aus Erpressung und Raubüberfällen über die zehn in ihrem Besitz befindlichen und von Landsleuten geführten Fischgeschäfte. Als eines Morgens Ivan, der ältere der beiden Söhne von Clanchef Milan, vor seinem Haus erschossen wird, erwartet die Familie von Johnny, dem Jüngeren, dass er den Bruder rächt. Aber Johnny, der in den Augen seines Vaters immer der schwächere Zweitgeborene war, zweifelt daran, dass hinter dem Mord die serbische Konkurrenz steckt, die die Novaks aus ihren Geschäften drängen will. Und da er sich ohnehin Sorgen um seine Frau Amy und Sohn Sasha macht, würde er am liebsten aus dem Familiengeschäft aussteigen. Doch um einen letzten Job kommt er nicht herum. Von DIETMAR JACOBSEN

Das Buch zeigt den Schriftzug Clanchef Milan Novak ist kein Mann großer Worte. Wenn ihm jemand an den Karren fährt, schlägt er brutal zurück. Kein Wunder, dass ihm deshalb sein ältester Sohn Ivan immer lieber war als John, der jüngere und nachdenklichere der beiden. Doch gerade Ivan ist es, den eines Morgens beim Müllentsorgen direkt vor seinem Haus eine Kugel trifft. Für den Vater steht sofort fest: Sein Lieblingssohn und designierter Nachfolger starb von der Hand eines zur serbischen Vucavec-Familie gehörenden Killers.

Rache ist angesagt – und natürlich ist das ein Job für den Bruder. Doch der zweifelt, ob es tatsächlich die konkurrierenden Serben waren, die Ivan beseitigten, um in dem lukrativen Geschäft mit Partydrogen, Erpressung und Raubüberfällen, das die Novaks in Sydneys Vorort Liverpool City betreiben, einen Vorteil für sich herauszuschlagen. Zumal einer der ihren kurz zuvor selbst bei einem Mordanschlag ums Leben kam und es kurz darauf einen dritten Toten, den Sohn eines italienischen Gangsters, gibt.

Rache für den Bruder

›Der zweite Sohn‹ ist der Erstlingsroman der australischen Autorin Loraine Peck. Ähnlich wie ihre Landsmännin Candice Fox, die seit ihrer ›Hades‹-Trilogie zu den weltweit erfolgreichsten Thrillerautorinnen zählt, blickt auch sie auf eine bunte Biographie zurück. Portraitmalerin und Assistentin eines Magiers, Barkeeperin und Hummerverkäuferin, Angestellte in Filmindustrie und Marketing auf mehreren Kontinenten – Peck hat einiges erlebt, bevor sie mit ihrem ersten Roman gleich den renommierten Ned Kelly Award der Australian Crime Writers Association für das beste Thrillerdebüt 2021 gewann. Inzwischen sitzt sie an einer Fortsetzung der Geschichte, für die sie am Ende von ›Der zweite Sohn‹ ein paar raffinierte Cliffhanger eingebaut hat.

Johnny jedenfalls, glücklich mit Ehefrau Amy und Sohn Sasha, ist kein Killer und hat eigentlich vor, lieber heute als morgen aus dem Familiengeschäft auszusteigen und irgendwo, weit weg von Sydney, ein neues Leben zu beginnen. Doch auch Unabhängigkeit kostet Geld. Und so reift in ihm ein Plan, mit dem er gleichzeitig die Rachegelüste seiner Familie befriedigen und sich die Mittel verschaffen kann, um sein altes Leben ein für allemal hinter sich zu lassen.

Zwei Fliegen mit einer Klappe

Geschickt wechselt Loraine Peck in ihrem Debütroman die Perspektiven, lässt ihre Leser die scheinbar so einfache Welt des Novak-Clans mal aus dem Blickwinkel Johnnys, mal aus jenem seiner Frau Amy sehen. Die ist vor allem besorgt um den gemeinsamen Sohn, will verhindern, dass auch er allgemach in ein Leben hineingerät, wie es einen mit Sicherheit erwartet, wenn man der Familie nicht rechtzeitig den Rücken kehrt. Das Ultimatum, welches sie ihrem Mann deshalb stellt – entweder ein neuer Anfang mit ihr oder ein Weitermachen wie bisher ohne sie und den kleinen Sasha – ist deshalb sehr ernst gemeint. Dass Amy John gegenüber allerdings ein Geheimnis hütet, das letzten Endes nicht nur den Mord an seinem Bruder in ein anderes Licht setzt, sondern auch tödliche Gefahren für die kleine Familie heraufbeschwört, kommt erst ans Licht, als es schon beinahe zu spät ist.

›Der zweite Sohn‹ ist ein Thrillerdebüt, das man nur schwer wieder aus der Hand legen kann. Loraine Peck versteht es zudem, ihre spannende Geschichte mit durchaus ernsten Themen zu verbinden. Bereits der kurze Prolog des Romans bringt die blutigen Auseinandersetzungen nach dem Auseinanderfall Ex-Jugoslawiens ins Spiel. Wie tief der Graben zwischen Serben und Kroaten auch zwei Jahrzehnte später noch ist, zeigt das unausrottbare Misstrauen zwischen den Familien Novak und Vucavec. Keiner traut hier dem anderen. Nur als es darum geht, diejenigen ausfindig zu machen, die sowohl kroatische wie auch serbische und italienische Gangs aus dem lukrativen Drogengeschäft zu drängen versuchen, indem sie sie gegeneinander aufhetzen, herrscht für kurze Zeit eine Art Burgfrieden. Doch der ist nicht von Dauer.

Für John Novak aber steht am Ende fest: »Wir alle sind in mehr oder weniger großem Umfang das Produkt unserer Vergangenheit. Aber wir können Entscheidungen für unsere Zukunft treffen. Ich will eine andere Zukunft.« Ob er mit seiner kleinen Familie dieses Ziel erreicht, wird wohl der nächste Roman von Loraine Peck zeigen.

| DIETMAR JACOBSEN

Titelangaben
Loraine Peck: Der zweite Sohn
Aus dem australischen Englisch von Stefan Lux
Berlin: Suhrkamp 2022
424 Seiten. 16,95 Euro
| Erwerben Sie diesen Band portofrei bei Osiander

Reinschauen
| Leseprobe

Ihre Meinung

Your email address will not be published.

Voriger Artikel

Fragen und Orientierung

Nächster Artikel

Eine Hommage an den Meisterdetektiv

Weitere Artikel der Kategorie »Roman«

Es ist nicht vorbei

Krimi | Horst Eckert: Wolfsspinne Zum dritten Mal lässt der Düsseldorfer Autor Horst Eckert in Wolfsspinne seinen Kommissar Vincent Ché Veih ermitteln. Der kommt aus einer tief in die deutsche Geschichte verstrickten Familie. Der Großvater ein unbelehrbarer Nazi, die Mutter eine RAF-Terroristin, der Vater – wie man erst in diesem Roman erfährt – zunächst linksextrem, dann zur extremen Rechten konvertiert und ein Cousin aus dem thüringischen Jena als V-Mann des Verfassungsschutzes in die NSU-Affäre verstrickt. Kein Wunder, dass sich Veih mit Vorliebe in Fälle stürzt, die einen politischen Hintergrund besitzen. Auch diesmal dauert es nicht lang, bis er sich mit

Von oben betrachtet

Roman | Max Annas: Der Hochsitz

Nach zwei Romanen über die Geraer Morduntersuchungskommission – Nummer 3 ist in Arbeit – nimmt der Autor seine Leser diesmal mit in die Eifel. Dort leben in einem kleinen Dorf nahe der luxemburgischen Grenze die 11-jährigen Mädchen Sanne und Ulrike. Man schreibt das Jahr 1978. Es sind Osterferien. Die Fußball-WM in Argentinien steht bevor. Aber noch sind bis dahin knapp zwei Monate Zeit. Dass es aufregende Monate werden, ahnen Annas' Heldinnen, als sie Zeuginnen eines Mordes werden und unversehens mitten in eine ebenso spannende wie politisch aufgeladene Geschichte geraten. Von DIETMAR JACOBSEN

Balancieren am Abgrund

Roman | Martin Lechner: Der Irrweg

Der zweite Roman des aus Norddeutschland stammenden und in Berlin lebenden Schriftstellers erzählt uns ein Stück aus dem Leben des Außenseiters Lars Gehrmann, und das mit Humor, sprachlicher Virtuosität und Sinn für das Groteske bei einem eigentlich ernsten Thema. Ebenso wie ›Kleine Kassa‹ (2014) und der Erzählungsband ›Nach fünfhundertzwanzig Weltmeertagen‹ (2016) ist der Roman beim Salzburger Residenzverlag erschienen. Eine Rezension von SIBYLLE LUITHLEN

Ich bin ein Solitär

Roman | Martin Mosebach: Krass

»Ich entstamme keiner Familie, ich gründe keine Familie, ich werde ohne Nachkommen sterben, ich bin ein Solitär.« So beschreibt der Büchner-Preisträger Martin Mosebach die Hauptfigur seines zwölften Romans Krass. Von PETER MOHR

Kubakrise und Klavierlehrerin

Roman | Ian McEwan: Lektionen

Der persönlichste, der umfangreichste, der beste – der neue Roman von Ian McEwan wurde schon vor dem Erscheinen der deutschen Übersetzung mit reichlich Vorschusslorbeeren überschüttet. Um es vorwegzunehmen – an die Meisterwerke des inzwischen 74-jährigen britischen Autors reichen die Lektionen nicht heran. Von PETER MOHR