Roman | François Vallejo: Drei französische Schwestern
Die französischen Schwestern, der neue Roman von François Vallejo, erzählt von 50 Jahren einer merkwürdigen und doppelbödigen Freundschaft, dabei wird die deutsch-französische Freundschaft nicht nur zufällig gestreift. Ein abgrundtief köstliches Lesevergnügen, findet HUBERT HOLZMANN.
Für die französischen Schwestern – drei an der Zahl: Marthe (21), Sabine (17) und Judith (14) – beginnt die Geschichte des 1960 geborenen Autors und Altphilologen François Vallejo mit einem unangenehmen Termin: Die drei Fräulein sind im Nachkriegsfrankreich der 50er Jahre vor ein Familiengericht beordert, das über die zukünftige Vormundschaft entscheiden muss. Den minderjährigen Schwestern Brelan, deren Mutter seit längerem verstorben und deren Vater durch einen tragischen Unfall ums Leben gekommen ist, droht die Vormundschaft durch die ungeliebte geizige Tante Rosie Ledrus und deren Mann Pierre, die selbst kinderlos sind.
Der Zufall rettet die drei Waisen vor dem Schlimmsten, ist doch der Termin just am 21. Geburtstag der ältesten Schwester anberaumt worden. Marthe selbst – nach dem Gesetz nun volljährig – wird durch den Richter die Vormundschaft zugesprochen. Die drei Schwestern – selbstbewusst und furchtlos – beginnen also ein eigenständiges Leben im elterlichen Landhaus. Die Ledrus wenden sich beleidigt ab.
Auch die Nachbarn Beaumonts, die zunächst vor allem aus Neugierde Kontakt halten, kapitulieren jedoch schon bald vor den ungezogenen Gören – ihr Name mag auf die Schlacht von Beaumont anspielen, wo die französische Armee im Jahre 1870 kapitulierte. Was allein bleibt, ist ein wenig Unterstützung – zumindest jedenfalls moralische – durch die geliebte Großmutter Madeleine, die jedoch bereits zu Beginn der Geschichte alt und klapprig ist. Mit dieser ungemein lebensbejahenden Frau werden die drei ihre ersten Fahrten mit dem alten, schon eingemotteten Renault Monasix machen. Im ersten Siegeszug fahren sie nach Paris über die Champs-Élysées.
Übermut oder Hexen-Unheilswerk
Die französischen Schwestern sind als Dreierbande unschlagbar. »Sie waren drei Schwestern, und sie hatten drei Angewohnheiten: sich mit einem Blick zu verständigen, alle zur selben Zeit stillzuschweigen und alle auf einmal zu reden. Allein fühlte jede sich wehrlos. Wenn die Schwestern Brelan sich zu sprechen getrauten, dann nur gemeinsam. Kein anderer verstand mehr sein eigenes Wort, weil sie dreimal so laut waren, da kannten sie keine Furcht.«
Das Leben versuchen sie mit kindlicher Naivität zu meistern. Da aber ihr Erbe begrenzt ist, müssen die Schwestern dann doch daran denken, für ihren Lebensunterhalt selbst zu sorgen. Marthe, die Älteste, wird die beiden Schwestern verlassen. Sie zieht aus und findet in einem Sanatorium neben einer Anstellung auch Aufnahme in einen sehr speziellen Frauenkreis. Die gemeinsame Stärke der Mädchen, ihr »Triumvirat« zerbricht: »Nachdem sie einen guten Monat getrennt gewesen waren, wussten sie sich nichts zu sagen.«
Zusätzlich tritt ein erster Mann in das Leben von Marthe – eine kurze, aber prägende Episode. Das Ergebnis (nicht das einzige!): eine Kurzhaarfrisur. Es ist also zunächst einmal Schluss mit den Zauberkünsten der femme fatale! »Die Ava-Gardner-Strähnen rieselten auf die Küchenfliesen, Marthe ließ das Sanatorium von sich abfallen…« Die erste Etappe auf dem Weg zur Emanzipation ist geschafft.
Männer spielen in den französischen Schwestern von da ab eine durchaus nicht unwichtige, trotzdem aber ambivalente Rolle. Der zweite Mann ist Monsieur Cicéro, der frühere Kompagnon des Vaters und nach dessen Tod alleiniger Leiter des gemeinschaftlichen Architekturbüros, an dem die Brelan-Schwestern noch einige Geschäftsanteile besitzen. Er wird für weitere einstweilige (Un)Sicherheit sorgen.
Dieser Monsieur Cicéro ist es denn auch, der ein Dreh- und Angelpunkt im Leben der französischen Schwestern sein wird, der vieles in den Schwestern anregt. Nicht nur als Arbeitgeber und Ratgeber, bald auch als Verführer und Heiratsvermittler. Denn Sabine, die als Chefsekretärin in seinem Bauplanungsbüro arbeiten wird, begleitet den Chef zu wichtigen Auftragsverhandlungen nach Berlin. Dort nimmt das Schicksal seinen Lauf. Der Verhandlungspartner Markus Schlegel ist so gebannt von Sabine, dass er sich nicht nur die Einzelheiten des Bauprojekts prüft, sondern »sich nach der Sekretärin mit den grauen Augen« erkundigen wird. Der Flirt beginnt und um die beiden – vielleicht doch mehr um ihn – ist es damit geschehen.
Verkettungen à la Truffaut oder Wie wird man den Mann wieder los?
Sabine zieht nach Berlin. Lebt dort in mehr als kleinbürgerlichen Verhältnissen in einer seltsamen Ménage-à-trois zusammen mit der dominanten Schwiegermama und dem trink- spielsüchtigen »Boche«. Der Bruch mit den Schwestern scheint endgültig. Trotzdem wagen die beiden Zurückgelassenen eine Fahrt mit dem Oldtimer über die Grenze. »Sie sorgten für Aufsehen an den Grenzen mit ihrem tuckernden Gefährt. Zöllner und Grenzposten schwankten zwischen Staunen und Verdacht.« Der französische Wagen schafft es zwar noch in die Hauptstadt des Erbfeindes »bis vor den repräsentativen Neubau« der Schlegels. Auf der Rückfahrt segnet er aber kurz vor Frankreich noch auf rechtsrheinischem Gebiet das Zeitliche.
Beinahe etwas skurril mutet es an, dass die Reise der Schwestern nach Berlin exakt mit dem Mauerbau 61 zusammenfällt, so dass die persönliche Trennung mit einer historischen Dimension unterlegt wird. Da setzt der durchaus unkonventionelle Versuch Judiths, die Verbindung der beiden so ungleichen Menschen dadurch zu sprengen, dass sie Schlegel der Untreue überführt, noch einen Skandal obendrauf. Doch hier scheitert französische Liebeskunst.
Ein deutscher Mann wirft also die Jüngste aus der Bahn. Judith beginnt nun ein weit gefährlicheres Spiel. Sie lässt sich mit einem Strafgefangenen, der wegen Mord und Vergewaltigung einsitzt, ein. Alles entscheidend – ein Blick, ein Lächeln. Und am Schluss sind doch alle drei wieder vereint. Grenzen werden überschritten. Die Mauer fällt. Und der Bankrotteur Schlegel wird schließlich zum Profiteur des Mauerfalls: »Sein Unternehmersinn regte sich wieder. Die Mauer wurde in Einzelteile zerlegt, er lieh bei alten Bekannten aus dem Baugewerbe Lastwagen, um ein paar Betonbahnen aufzuladen. Wenn sie die in Portionsstücken verkauften, könnten sie ein kleines Vermögen machen.« Trennung und Einheit. Nicht nur unter französischen Schwestern. Ein wunderbarer Versuch von Emanzipation.
| HUBERT HOLZMANN
Titelangaben
François Vallejo: Drei französische Schwestern
Aus dem Französischen von Christel Gersch
Berlin: Aufbau 2012
285 Seiten. 19,99 Euro