Februar 2003. Die USA bereiten den Irak-Krieg vor. Ein Informant mit dem Decknamen »Curveball« hat versichert, dass Saddam Hussein über Massenvernichtungswaffen verfügt. Doch eine irakische Widerständlerin behauptet das Gegenteil und bezichtigt »Curveball« der Lüge. Die Beweise für ihre Behauptung will sie binnen Kurzem einem Vertreter der Bundesrepublik in Bagdad übergeben. Denn »Curveball« wird als Informant vom BND geführt. Damit bei der Übergabe nichts schief geht, wird ein kleines Team um den Scharfschützen Frank Jarolim in den Irak beordert. Aber nicht alle politischen Akteure haben ein Interesse daran, den heraufziehenden Krieg im letzten Moment zu verhindern. Und so sehen sich Jarolim und seine beiden Kameraden plötzlich im Fokus einer ganz perfiden Form von »friendly fire«. Von DIETMAR JACOBSEN
Frank Jarolim arbeitet als Scharfschütze im Auftrag des Bundesnachrichtendienstes. Gerade hat er bei einem Einsatz in Bosnien einen jungen Serben getötet und ist, nach Hause zu seiner Frau und den beiden Kindern zurückgekehrt, bemüht, mit sich selbst und der auch für seine Familie verstörenden Situation zurechtzukommen, als man ihn bereits an den nächsten weltpolitischen Brennpunkt schickt. In Bagdad hat sich die Angehörige einer kommunistischen Widerstandsgruppe gegen das Saddam-Regime an einen französischen Agenten mit der Bitte gewandt, für sie ein Treffen mit jemandem aus der deutschen Botschaft zu arrangieren.
Sie will Beweise übergeben, dass die Quelle mit dem Decknamen »Curveball«, auf die sich die Amerikaner berufen, um ihren Einmarsch in den Irak zu legitimieren, lügt. Jarolims Team soll dafür sorgen, dass die Übergabe der für den Erhalt des Friedens in der Region so wichtigen Dokumente reibungslos vor sich geht. Doch als man vor Ort eintrifft, muss man feststellen, dass weder die eigenen Leute noch die Verbündeten ein Interesse an der Wahrheit haben. An einem Krieg scheint kein Weg mehr vorbeizuführen. Und wer sich dem entgegenstellt, der lebt gefährlich.
Einen Krieg verhindern, der nicht verhindert werden soll
Oliver Bottini (Jahrgang 1965), der mit der sechsteiligen Reihe von Kriminalromanen um die Freiburger Kommissarin Louise Boní (2004 bis 2015) bekannt wurde, hat mit Einmal noch sterben nun einen Politthriller vorgelegt, der sich mit der Vorgeschichte des Krieges gegen den Terror beschäftigt. Was sich nach den New Yorker Anschlägen vom September 2001 unter Führung der USA und ihres Präsidenten George W. Bush Anfang 2003 als »Koalition der Willigen« gegen die so genannte »Achse des Bösen«, zu der neben Nordkorea und dem Iran auch der Irak als islamistischen Terror unterstützender Staat gezählt wurde, zusammenfand, begründete seine Mitwirkung an dem am 20. März 2003 beginnenden 3. Golfkrieg mit der Sorge um das die freie Welt angeblich bedrohende Bio- und Chemiewaffenarsenal Saddam Husseins.
Das Arglistige daran: Die Beweise für die Existenz von Massenvernichtungsmitteln auf dem irakischen Territorium, mit denen man den völkerrechtswidrigen Krieg gegen den Irak begründete, waren, wie sich später herausstellte, frei erfunden. Dass sie vom Nachrichtendienst eines Landes, das sich am späteren Militäreinsatz gar nicht beteiligte, dem der Bundesrepublik Deutschland nämlich, bereitgestellt wurden, macht die Geschichte noch brisanter und für einen Autor wie Oliver Bottini als Romangegenstand gerade deshalb außerordentlich verlockend, weil sie so viele Leerstellen enthielt, in die er mit seiner Phantasie hineingehen konnte.
Eine Geschichte mit vielen Unbekannten
Einmal noch sterben ist deshalb kein Roman geworden, der Historisches nacherzählt, sondern ein Buch, das seine Leser in eine Welt entführt, wie sie gewesen sein könnte. Eine Welt, in der deutsche Geheimdienste mehr mit den Ereignissen am Persischen Golf zu tun haben, als sie je in der Öffentlichkeit zuzugeben haben. Eine Welt, in der es nicht auf Menschenleben ankommt, in der dreist um des Profites Willen gelogen wird und einmal in Gang gesetzte militärische Operationen nicht mehr aufgehalten werden können.
In dieser Welt haben weder ein moralisch denkender Mensch wie Frank Jarolim noch die BKA-Sonderermittlerin Hanne Lay, die im Auftrag des Kanzleramtes die Integrität der unter dem Decknamen »Curveball« sich seit Jahren im Zeugenschutzprogramm befindenden Quelle überprüfen soll, eine Chance. Stattdessen operiert im Untergrund ein ominöser, aus Amerikanern und Deutschen sich zusammensetzender Thinktank, dessen Mitglieder selbst vor Auftragsmorden nicht zurückschrecken, wenn sie ihre Interessen gefährdet sehen. Vernetzt bis in die Führungsetagen des Bundesnachrichtendienstes, agieren einst einflussreiche Personen wie der Ex-BND-Präsident Hans Breuninger, dessen Sohn eines der deutschen Opfer des 11. September war, in engster Zusammenarbeit mit US-amerikanischen Kreisen, die die Vorherrschaft der USA in der Welt schwinden sehen und deshalb mit einem schnellen und siegreichen Krieg dafür sorgen wollen, die alten Kräfteverhältnisse wiederherzustellen. Und dazu sind ihnen alle Mittel recht.
Wie es gewesen sein könnte
Was Oliver Bottini in seinem außerordentlich spannenden, die einzelnen Handlungsfäden geschickt miteinander verknüpfendem Roman erzählt, besitzt in sich durchaus Plausibilität und weist deshalb auch über das Fiktionale hinaus. Natürlich ist inzwischen längst bekannt, dass jene fadenscheinigen Argumente, mit denen im März 2003 ein Krieg vom Zaun gebrochen werden konnte, dessen Nachwirkungen bis in die Gegenwart spürbar sind, reine Erfindung waren. Aber weiß man heute wirklich alles über jenen Konflikt, bei dem das offizielle Deutschland unter seiner rot-grünen Regierung mit Kanzler Schröder an der Spitze jegliche Mitwirkung verweigerte? Oder steckt in der Geschichte um den Scharfschützen Frank Jarolim, einen moralisch denkenden Menschen in unmoralischen Zeiten, nicht doch mehr als nur Literatur?
Titelangaben
Oliver Bottini: Einmal noch sterben
Köln: DuMont Buchverlag 2022
475 Seiten, 24 Euro
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