Wer eine turbulente Geschichte mit Anspruch und Niveau, Witz und doppeltem Boden sucht, der liegt mit Arjounis neuem Streich genau richtig. Aber Vorsicht: es gibt Stellen, da wird Ihnen der Bissen im Halse stecken bleiben. Von BARBARA WEGMANN
Urplötzlich spitzen sich Harmloses, Banales und Alltägliches zu einem zwischenmenschlichen Hurrikan zu. Sozialleben in Familie und Schule, ein Kaleidoskop, viele Farben, viele Facetten, viele Sichtweisen. Jakob Arjouni, bekannt als »Shootingstar der deutschen Krimi- Szene«, präsentiert sich mit seinem neuen Roman einmal mehr als »intelligenter Unterhalter«.
Chaos-Familie
Deutschlehrer Linde weiß, was für ein Chaos in seiner Familie herrscht: seine Frau Ingrid, seit Jahren in psychiatrischer Behandlung ist wieder in der Klapse, Martina, seine 18jährige Tochter mußte mit aufgeschnittenen Pulsadern ins Krankenhaus gebracht werden und Pablo, der 19jährige Sohn, fährt, wenn er nicht auf Demos ist oder bei Amnesty International arbeitet, heimlich »noch mal schnell nach Darmstadt« ins Videokabinen-Sex-Center.
Als wäre das nicht alles schon genug, gerät Linde auch durch seinen Unterricht in die Schußlinie, wird von der Mutter eines Schülers als »kleiner feiger antisemitischer Scheißer« beschimpft, weil seine Stunde zum Umgang mit Schuld im Dritten Reich aus den Fugen geriet. »..deine Großeltern hätten sie von mir aus gerne mit vergasen können, dann müssten wir uns heute nicht diesen Scheißdreck anhören!« Was für ein Mann, der das alles locker und souverän wegsteckt, für alles Erklärungen und Rechtfertigungen hat. Oder verhält es sich doch ganz anders?
Der Mann von nebenan
»Mir fallen ja nur Geschichten zu Orten, Menschen oder Verhältnissen ein, die ich kenne, also muß ich auch nicht recherchieren«, sagt der sympathische und spitzbübische Arjouni in einem Interview. Und so hat man in seinem neuen Roman auch das Gefühl, Mensch, Deutschlehrer Linde, das ist doch der von nebenan, einer wie du und ich. Dass sich im benachbarten Zuhause die Krise einnistet und zuspitzt, auch das ist alltägliches Geschehen: kaum aus dem Krankenhaus, zieht die Tochter nach Mailand und ihr Freund kommt die Sachen holen.
»Eine Mißgeburt! Seine Tochter anrühren! Sauereien mit ihr anstellen! Abstechen wollte er ihn! Den Kopf einschlagen! Zertreten!« Linde als wütender und liebender Vater einer Tochter. Pablo schlägt Vater Linde K.O., weil er angeblich unsittlich der Schwester nachgestiegen ist, was wiederum zu ihrem Weggang führte. Und zur Krönung eines harmonischen Familienlebens, tut Ingrid dem Lehrerkollegium per E- mail kund, was für ein Schwein ihr Mann doch ist. Tragik und Komik liegen in diesem herrlichen Buch so nahe beieinander wie lachende und weinende Tränen.
Die Ringelsocken- Schuld
Zentral dreht sich alles um Schuld, im Dritten Reich, in der Familie, in der Eltern-Kind-Beziehung, in der Partnerschaft. Wer hat recht, wer nicht? Aber ehe es zu dieser möglicherweise über Glück oder Unglück entscheidenden Frage kommt, haben sich schon seit langem Strukturen gebildet, sind Fronten entstanden, Verhaltensmuster gewachsen. Ein schon von langer Hand gewobener Konflikt. Nur weil Linde irgendwann im Sommer, irgendwo in Südfrankreich, nur mit Ringelsocken bekleidet morgens aus dem Zelt kommt, um zu pinkeln und das zum neugierigen Schrecken seiner Tochter, muß es deshalb soweit kommen? »… seitdem glaubt meine Familie offenbar, ich sei pervers oder so was.«
Ob in der großen Politik oder im kleinen häuslichen Rahmen, die Lawine kommt ins Rollen. Was als kleines Gewächs zu sprießen beginnt, wird zur alles verschlingenden Liane. »Eine Vorliebe für Minderjährige war so ziemlich der böseste Verdacht, dem man als Pädagoge ausgesetzt sein konnte.«
Arjouni hält unterhaltsam den Spiegel vor: Wie soll hohe Politik klappen, wie sollen Völker gegenseitige Toleranz üben, Verständnis für das Wesen des anderen haben und Respekt zeigen, wenn das doch alles schon im kleinsten Familienkreis nicht klappt? Hinreißend skizzierte Schwächen, urkomische Situationen und allzumenschliche Versuche, sich von allem hilflos strampelnd zu distanzieren, Rechtfertigungen zu finden. Ob in Nahost oder bei den Nachbarn, überall das gleiche Spiel.
Der Autor hebt aber keineswegs den mahnenden Finger, lässt den Leser alleine seine Schlüsse und Lehren ziehen. Die Leichtigkeit des Romans darf nicht täuschen, flott geht es zu, mit viel Tempo durch die familiäre Krise, aber der Hammer kommt ganz sicher.
Arjouni, der in seinem Leben so Manches begonnen und abgebrochen hat, meint: »Wirklich bei der Sache war ich nur beim Schreiben. Und dann kam ich zu Diogenes, und die Berufssuche hatte sich erledigt.« Bei den Romanen kein Wunder!
Titelangaben
Jakob Arjouni: Hausaufgaben
Zürich: Diogenes Verlag 2005
190 Seiten, 11 Euro
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