Kunst und Technik

Film | Neu auf DVD: Georges Méliès – Die Magie des Kinos und Die Reise zum Mond

Am Anfang der Filmgeschichte standen zwei Gattungen, die seither längst vom abendfüllenden Spielfilm an den Rand gedrängt wurden: der Dokumentarfilm und der Trickfilm. Die Brüder Lumière benutzten die neue Erfindung, um Szenen aus der Wirklichkeit festzuhalten: einen in eine Station einfahrenden Zug, Arbeiterinnen, die eine Fabrik verlassen. Dass schon damals »geschwindelt«, Szenen gestellt wurden, ist mittlerweile bekannt. Im Prinzip aber folgten die Lumières dem Anspruch der Fotografie, der sie die Bewegung hinzufügten. Von THOMAS ROTHSCHILD

Georges MeliesGeorges Méliès war es um Unterhaltung zu tun. Er kam von der Zauberkunst her, sah im Film die Möglichkeit, Illusionen zu produzieren, wie man sie zuvor im Varieté bewundert hatte. Die zahlreichen kleinen Filme, die er im ersten Jahrzehnt nach Erfindung des Kinematographen gedreht hat, greifen auf Tricks zurück, die zum Repertoire der Magier gehören: Menschen und Gegenstände verschwinden und tauchen wieder auf, sie verwandeln sich, verändern ihre Größe, menschliche Körper werden ohne tragische Folgen versehrt und zerstückelt und überwinden physikalische Gesetze, Dinge werden lebendig.

Die Sujets der frühen Filme von Méliès sind äußerst einfach. Oft bestehen sie nur aus einer Situation, einer – meist komischen – Intrige, auch bekannte Märchen wie Aschenputtel oder Blaubart dienen als Vorlage. Immerhin 33 Minuten dauert die Science Fiction-Komödie Die Eroberung des Nordpols von 1912. Noch gibt es keine Kamerabewegung, der Schnitt folgt noch der Notwendigkeit des Materials, nicht, wie einige Jahre später, dem Prinzip der Bedeutungskonstruktion. Aber bereits in diesen frühen Versuchen werden gelegentlich einzelne Kader koloriert: die Sehnsucht nach der Farbe wurde mit den ersten Filmen geboren.

Nun hat Arthaus Studiocanal eine Doppel-DVD herausgebracht: Die erste enthält 29 Filme von Georges Méliès, die zweite ist seiner Reise zum Mond gewidmet. Von diesem legendären 14-minütigen Film existieren eine schwarz-weiße und eine kolorierte Version, die lange als verschollen galt und erst kürzlich aufgefunden und restauriert wurde. Beide Versionen sind auf der DVD enthalten, dazu eine Dokumentation, die weitaus länger ist als der Film von Méliès selbst. Diese DVD ist auch einzeln im Verkauf.

Bis heute – und gerade heute mehr als in den fünfziger oder sechziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts – interessieren und faszinieren Techniken im Kino ebenso wie die Story und erst recht der Kunstanspruch. Der Film war von Anfang an, mehr als alle anderen Künste, abhängig von Techniken und Erfindungen. Das Schreiben von Gedichten oder Romanen hat sich durch die Schreibmaschine oder den Computer, das Drama hat sich durch das elektrische Licht oder die Drehbühne weniger verändert als der Film durch die neuen technischen Möglichkeiten des vergangenen Jahrhunderts. »Special Effects« haben sich verselbständigt, erst in zweiter Linie dienten sie künstlerischen Bedürfnissen.

So gesehen sind die Filme von Méliès heute eher von filmtechnisch-historischem als von ästhetischem Interesse. So gut wie alles, womit der Pionier seinerzeit sein Publikum überrascht und amüsiert hat, wirkt heute veraltet, ist uns längst vertraut. Aber man muss es kennen, wenn man über Film redet, wie man von der Buschtrommel und von Rauchzeichen wissen muss, wenn man – apropos iPhone – über Kommunikation schwadroniert.

| THOMAS ROTHSCHILD

Titelangaben
Georges Méliès: Die Magie des Kinos und Die Reise zum Mond
Arthaus 2012.
FSK: 6, 2 DVDs

Ihre Meinung

Your email address will not be published.

Voriger Artikel

Bunter Stilmix

Nächster Artikel

Fluxus als Haltung

Weitere Artikel der Kategorie »Film«

Der Western bleibt

Sachbuch | Anmerkungen zu Thomas Klein: Geschichte – Mythos – Identität. Zur globalen Zirkulation des Western-Genres Man sollte über den Western vielleicht keine nüchternen Texte verfassen, das ist nur unter Schwierigkeiten möglich, und Thomas Klein weist in seiner hier rezensierten grundlegenden Untersuchung zurecht wiederholt darauf hin, dass dieses Genre sich facettenreich entwickelt und sich erfolgreich behauptet, indem es seine Erscheinung chamäleongleich verändert. Nun denn. Vielleicht gibt es dennoch einige Leitfäden. Von WOLF SENFF

»Wer ins Wespennest sticht, wird gestochen«

Film | Im TV: TATORT 902 Abgründe (ORF), 2. März Die beiden dürfen das. »Wir arbeiten in einem unfassbaren Saustall.« Moritz Eisner (Harald Krassnitzer) und Bibi Fellner (Adele Neuhauser) klären auf. Abgründe bildet Strukturen eines von Betrug, Lügen und Fälschungen durchsetzten Polizeiapparats ab, von Schmiergeldzahlungen und Verflechtungen mit lokalen Wohnungsbauunternehmen, der Film Noir erlebt seit einiger Zeit sein zaghaftes Revival im TATORT. Von WOLF SENFF

Wie die Welt sich dreht

Film | Im Kino: The Grandmaster (Wong Kar-Wai) Vielleicht war das bereits ein frühes Signal für das Bröckeln des Westens und seiner Lebensweise, man weiß es nicht. Man soll seine Texte nicht mit »vielleicht« beginnen, vielleicht ist das ein Signal dafür, dass auch die Texte bröckeln, wer weiß das schon, es bröckelt und zittert, wo niemand es vermutet hätte: bei den Banken, der Gesundheitsvorsorge, den Werksverträgen usw. usf., und die Lernäische Schlange reckt ihre Köpfe, jene Hydra, die wir bei Homer endgelagert wähnten, als Merkel ist sie uns auferstanden, Europa liegt in Schockstarre. Von WOLF SENFF

Schöpfer der fiktiven Chronik

Menschen | Zum 85. Geburtstag des Regisseurs Edgar Reitz am 1. November Edgar Reitz ist sich heute bewusst, dass der Begriff »Heimat« ambivalente Gefühle und kontroverse Diskussionen auslöst. »Die traumhafte Geborgenheit, die ist in der Erinnerung irgendwo noch vorhanden, und das wird auch bei Heimat suggeriert oder im Unbewussten aufgerufen«, hatte Reitz im letzten Sommer in einem Interview erklärt. Ein Porträt von PETER MOHR

Vom Pulsschlag des Zuschauers

Film | Im TV: Polizeiruf 110 – ›Kreise‹ (Bayerisches Fernsehen), 28. Juni Lange Gesprächsphasen, viel Ruhe, außer in der Eingangssequenz kein Stück inszenierte Dramatik, keine sensationellen Effekte, Verhöre im Plauderton, wie kann das passen. Die neue Masche Retro-Krimi? Oder was? Von WOLF SENFF