Blick zurück ohne Zorn

Roman | Klaus Modick: Klack

Klaus Modicks Zeitreise durch das Nachkriegsdeutschland. Gelesen von PETER MOHR
Klaus Modick: Klack
Er ist schon seit ewigen Zeiten eine feste Größe im Literaturbetrieb. Als Übersetzer, Essayist, Kritiker und fleißiger Romancier hat sich der promovierte Literaturwissenschaftler einen Namen gemacht, doch der ganz große Durchbruch blieb dem 61-jährigen Klaus Modick bisher dennoch verwehrt.

Dabei versteht es der gebürtige Oldenburger vorzüglich, sich ernsten Themen in einem flotten, unangestrengten Plauderton zu widmen. Modick bewegt sich stets auf einem schmalen Grat zwischen E- und U-Literatur, eine »Mischung«, die im anglophonen Sprachraum längst salonfähig ist, in der deutschsprachigen Literaturszene aber immer noch ein Naserümpfen auslöst.

In seinem dreizehnten Roman nimmt uns Modick mit auf eine Zeitreise in die frühen 1960er Jahre. Sein Ich-Erzähler Markus ist 14 Jahre alt, als er auf dem Dachboden eine alte Fotokamera findet, eine »Agfa Clack«: »einlinsiges Objektiv, Rollfilm, Format 6 x 9«. Fortan dokumentiert er alles, was ihm vor die Linse kommt – Opas Beerdigung, die neue Eisdiele in der Nachbarschaft und vieles mehr. Mit dem Fotografieren, mit dem »Klack« des Auslösers wird ein Stück Gegenwart eingefroren.

Es ist eine Zeit der gewaltigen Zäsuren: vom Mauerbau bis zur Kubakrise, von der Eichmann-Verhaftung bis zur Veröffentlichung der Blechtrommel, die damals als Pornografie gegeißelt wurde. Doch nicht nur die Welt, die Modick immer wieder in die norddeutsche Kleinstadt einfließen lässt, befindet sich im Umbruch – auch Markus’ eigenes Leben verändert sich rasant. Der Apothekersohn lernt nämlich Clarissa Tinotti kennen, ein bildhübsches Mädchen aus Apulien, dessen Vater eine Eisdiele eröffnet hat.

Und damit befinden wir uns mitten im prallen Leben – zwischen ersten pubertären Wirrungen und detailreicher Erinnerungsreise in das Wirtschaftswunder-Deutschland. Modick baut alte Schlager, Werbeslogans und immer wieder Nachrichtenmosaike in seine Handlung ein. So entsteht ein facettenreiches Soziogramm der 1960er Jahre, das uns Einblick in das Denken der einfachen Leute gewährt, das uns den Zeitgeist atmen lässt, der noch immer von der NS-Zeit geprägt ist.

Wir erleben »aufgestandene« Kriegsverlierer, für die die Fußballweltmeisterschaft 1954 eine große Wende im eigenen Selbstwertgefühl markierte. Nicht nur für die Vertriebenenverbände sind die Ostgebiete weiterhin deutsch, und der Alltagsrassismus macht auch vor Markus’ Familie nicht halt. Seine strenge Oma sagt ganz offen, dass sie die »Spaghettifresser« nicht mag.

Modicks Geschichte wirkt unendlich weit weg, das Leben erscheint in einem leicht eingetrübten Sepiaton. Die Tanzstunde war ein bahnbrechendes Ereignis, die Raupenfahrt auf der Kirmes sorgte für erhöhten Blutdruck. Hier wird ein Lebensgefühl aus einer »anderen Zeit« evoziert, man atmet als Leser förmlich die etwas muffige Luft dieser Epoche ein.

»Ich bin nicht mit dem Erzähler identisch, der ist ja auch fünf Jahre älter als ich. Ich brauchte für die Geschichte einen Jugendlichen, der in der Pubertät ist, weil ich eine Pubertätsgeschichte erzählen wollte, und einen, der die Zeitsituation besser durchschaut als ich als Zehnjähriger«, hatte Klaus Modick in einem Interview erklärt.

Unabhängig von der Frage nach dem autobiografischen Anteil hat Modick diese Geschichte mit reichlich Herzblut und viel Liebe zu seinen Figuren erzählt. Hier gibt es kein besserwisserisches Moralisieren und keine Noten für political correctness. Da stehen die Ewiggestrigen unkommentiert neben der arroganten Schwester und der autoritären Lehrerschaft. Der Roman Klack liefert ein authentisches Zeitpanorama, einen erzählerischen Rückblick ohne jeden Zorn und wunderbar leicht erzählt.

Dass dieses Buch ganz stark an die Werke von Walter Kempowski erinnert, ist gewiss kein Zufall, denn beide Autoren kannten sich gut und schätzten einander sehr. Jetzt wünschen wir Klaus Modick (ganz ungeniert) eine ähnlich große Leserschaft. Verdient hätte er es längst.

| PETER MOHR

Titelangaben
Klaus Modick: Klack
Köln: Kiepenheuer & Witsch 2013
221 Seiten. 17,99 Euro

Reinschauen
Leseprobe

Ihre Meinung

Your email address will not be published.

Voriger Artikel

Ein Wasserloch, das Tuwan heißt

Nächster Artikel

Wer passt zu mir?

Weitere Artikel der Kategorie »Roman«

Biographie mit Brüchen

Roman | Deniz Ohde: Streulicht

In Deutschland bleibt die soziale Herkunft laut der PISA-Studie 2015 entscheidend für den Schulerfolg, und zwar nach wie vor stärker als in anderen Industrienationen. Laut der PISA-Studie aus dem Jahr 2018 hat die soziale Ungleichheit in Deutschland sogar wieder zugenommen.
Deniz Ohde hat sich in ihrem Debütroman »Streulicht« ganz dem Thema der sozialen Ungleichheit und des Rassismus gewidmet, indem sie mit einem klarsichtigen und unverstellten Blick sowie deutlichen Worten den feinen Unterschieden in unserer Gesellschaft nachspürt, die sich von der Kindheit über die Jugend bis ins Erwachsenenleben ihrer Erzählerin ziehen. Von FLORIAN BIRNMEYER

Du bist überall

Roman | Michael Kumpfmüller: Wir Gespenster

»Mein Glück besteht darin, dass ich immer schreiben wollte, spät damit angefangen habe, jetzt aber seit über Jahren schreibe – ich auch weiter schreiben kann, was ja immer eine ökonomische Frage ist«, bekannte Erfolgsautor Michael Kumpfmüller in einem Interview. Die Erfolgsgeschichte des inzwischen 63-jährigen Autors begann im Jahr 2000 mit seinem von der FAZ damals vorab gedruckten Romanerstling Hampels Fluchten. Mit Nachfolgewerken wie den verfilmten und in 27 Sprachen übersetzten Roman Die Herrlichkeit des Lebens (2011), Die Erziehung des Mannes (2016) und Tage mit Ora (2018) feierte er respektable Erfolge. Von PETER MOHR

Zeit zu trauern

Jugendbuch | Erna Sassen: Das hier ist kein Tagebuch Die Selbsttötung eines Familienmitglieds ist unverändert ein gesellschaftliches Tabu, was den Umgang damit enorm schwierig macht. Erwachsene z.B. halten Erschrecken und Schmerz im Zaum, indem sie das Ganze rasch abtun. Jugendliche trifft es mitten in ihrer Schutzlosigkeit. Wenn sie dem Verhalten der Erwachsenen folgen, sind sie verloren, denn sie bekommen keine Zeit zu trauern. Die niederländische Autorin Erna Sassen erzählt davon in ihrem Debütroman ›Das hier ist kein Tagebuch‹. Von MAGALI HEISSLER

Der Trost einer helfenden Hand

Roman | Ralf Rothmann: Museum der Einsamkeit

Nach seinen viel beachteten Ruhrgebiets-, Kriegs- und Berlinromanen, nach einer Fülle an literarischen Auszeichnungen zeigt sich Ralf Rothmann im neuen Erzählungsband auf der Höhe seines Schaffens. Das Museum der Einsamkeit archiviert auf den ersten Blick alltägliche Szenen, die jedoch in ihrer Dringlichkeit und Wahrhaftigkeit ans Herz gehen. Sanft abgemildert von einer feinen Ironie – wie dem kleinen Versprecher, durch den die titelgebende Geschichte zu ihrem Namen kommt. Von INGEBORG JAISER

Arsen und Fremdenhass

Roman | Lisa Sandlin: Der Auftrag der Zwillinge

Zweimal schon haben Delpha Wade und Tom Phelan gemeinsam ermittelt. Tom von seiner Detektei »Phelan Investigations« im texanischen Beaumont aus. Delpha, nach 14 Jahren hinter Gittern, als frischgebackene Sekretärin des jungen Ermittlers. Ging es bei ihrem letzten gemeinsamen Fall – nachzulesen in Lisa Sandlins Thriller Family Business (2017, deutsche Übersetzung 2020 im Suhrkamp Verlag) – um zwei Brüder, ist es diesmal ein weibliches Zwillingspaar, das die Detektive anheuert. Die beiden Frauen vermuten, dass jemand sie langsam mit Arsen vergiften will. Und weil eine von ihnen noch ein paar Monate im Gefängnis von Gatesville absitzen muss, ist der Fall doppelt brisant und es drängt die Zeit. Von DIETMAR JACOBSEN