/

Angst, Hunger und Durst

Roman | Jesús Carrascos: Die Flucht

Jesús Carrascos glänzendes Romandebüt Die Flucht. Von PETER MOHR
Jesús Carrascos: Die Flucht
Auch der internationale Literaturbetrieb schreibt hin und wieder seine eigenen Märchen. Ein Werbetexter verliert aufgrund der schweren Wirtschaftskrise in Spanien seinen Job, geht in sich und schreibt einen Roman, der gleich in zehn Sprachen übersetzt wird. Die Rede ist vom 40-jährigen Spanier Jesús Carrasco und dessen faszinierenden Erstling Die Flucht.
Der in Sevilla lebende literarische Debütant erzählt eine karge Geschichte, die von nur wenigen Figuren handelt und in deren Mittelpunkt die Angst als zentrales Motiv steht. Ein namenloser Junge ist aus seinem Dorf »nach Norden« geflüchtet. Viel mehr Details erfahren wir zunächst nicht. Seine Beweggründe bleiben so unklar wie seine Verfolger. Hunger, Durst und Angst plagen den flüchtenden, verstört wirkenden Jungen und werden zur existenziellen Bedrohung.

Carrasco erzählt aus dem Blickwinkel des Heranwachsenden in der dritten Person. Dabei gelingen ihm starke, atmosphärisch dichte Beschreibungen. Wenn der Junge durch die verbrannte Steppe zieht und sich in sengender Hitze in Erdlöcher versteckt, glaubt man, den Staub und die Trockenheit auf den eigenen Lippen zu spüren.

Irgendwann trifft der flüchtende Jüngling auf einen betagten Ziegenhirten – fromm, belesen und absolut bibelfest. Die Einsamkeit scheint besiegt zu sein, der Junge bleibt jedoch misstrauisch, weiß nicht, wie er den Alten einschätzen soll. Als die Verfolger den Jungen dann aufspüren, beschützt der Hirte ihn – unter Einsatz seines eigenen Lebens.

Mit beinahe missionarischem Eifer doziert der alte Mann über die Lichtstrahlen am Himmel: »Einer steht für die Erinnerung, der zweite für die Vernunft und der dritte für den Willen.« Erinnerung, Vernunft und Willen benötigt auch der Junge, denn nach und nach erschließt sich, warum er aus seinem Dorf geflohen ist, dass ihn ausgerechnet ein Polizist missbraucht hat und dass sein Vater dabei auch eine schäbige Rolle spielte.

Losgelöst von Raum, Zeit und politischem Kontext hat Jesús Carrasco die Allgegenwart der Angst mit all ihren existenzbedrohenden Facetten thematisiert. Die Flucht als einziger denkbarer Ausweg, das Ausweichen vor der eigenen Scham und die tiefgehenden seelischen Verletzungen erreichen hier eine geradezu schmerzhafte Körperlichkeit.

Welch ein großartiges Debüt! Auch wenn es zynisch klingen mag: So hat die spanische Wirtschaftskrise auch noch etwas Positives hervorgebracht, uns durch einen Zufall den großartigen Autor Jesús Carrasco geschenkt.

| PETER MOHR

Titelangaben
Jesús Carrasco: Die Flucht
Aus dem Spanischen von Petra Strien
Stuttgart: Klett-Cotta 2013
207 Seiten. 18,95 Euro

Reinschauen

Leseprobe

Ihre Meinung

Your email address will not be published.

Voriger Artikel

Winnie Puhs Erben im 21. Jahrhundert

Nächster Artikel

Betthupferl

Weitere Artikel der Kategorie »Debüt«

Kurze und bündige Sprachspielereien

Roman | Markus Öhrlich: Die beste erstbeste Gelegenheit Nichts weniger als ein kleines, sich über achtundfünfzig Seiten erstreckendes Meisterwerk legt Markus Öhrlich mit seinem Debütroman Die beste erstbeste Gelegenheit vor, ein Meisterwerk lakonischer Sprachspielereien. Von RÜDIGER SASS

Klick und ratsch!

Roman | Nina Sahm: Das letzte Polaroid Übermütige Momentaufnahmen und eine innige Mädchenfreundschaft, trügerische Erinnerungen und die Vergänglichkeit aller Dinge sind die verbindenden Themen von Nina Sahms leichtfüßigem Erstlingsroman. Was passiert, wenn das Schicksal zuschlägt und als Andenken nur noch Das letzte Polaroid übrig bleibt? Von INGEBORG JAISER

Weniger wäre mehr in Koethi Zans Erstlingsroman

Roman | Koethi Zan: danach In Koethi Zans Thriller-Debüt Danach hat eine junge Frau drei Jahre in der Gefangenschaft eines Psychopathen verbracht. Ein Jahrzehnt später soll der Mann vor einen Bewährungsausschuss und eventuell wieder auf freien Fuß kommen, wenn Sarah Farber nicht gegen ihn aussagt. Aber die wagt sich kaum, ihre New Yorker Wohnung zu verlassen, weil sie Angst hat, dass dann alles wieder von vorn beginnt. Von DIETMAR JACOBSEN

Zwischen den Kriegen

Roman | Krimi | Robert Hültner: Am Ende des Tages Mit Paul Kajetan hat Robert Hültner in seinem neuen Roman Am Ende des Tages eine Figur geschaffen, mit deren Hilfe es ihm gelingt, seinen Lesern das Deutschland zwischen den beiden Weltkriegen zu erklären. Die bisher vorliegenden sechs Romane um den unangepassten Mann, dessen Aufrichtigkeit und moralische Integrität ihm Anfang der 20er Jahre seine Polizeikarriere gekostet haben, verbinden spannende Unterhaltung mit einem facettenreichen Zeitporträt. Allerdings sieht es am Schluss des aktuellen Abenteuers ganz so aus, als wäre es Kajetans letzter Fall. – Von DIETMAR JACOBSEN

Unordnung und frühes Leid

Roman | Andrea Sawatzki: Ein allzu braves Mädchen Andrea Sawatzki war in ihrer Jugend Ein allzu braves Mädchen. So hat sie der Protagonistin ihres Debütromans nicht nur die schmale Statur und auffallend rotblonde Haare verliehen, sondern auch die Erfahrung kindlicher Überforderung. Die schließlich in einen tragischen Mordfall mündet. Von INGEBORG JAISER