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Hardcore-Hype in der Kulturhauptstadt

Roman | Krimi | Massimo Carlotto: Die Marseille Connection

Am Ende des Actionkinos French Connection (1975) fährt der Drogenboss Alain Charnier auf seiner Jacht die schier endlose Ausfahrt des alten Hafens von Marseille entlang, während ihn der New Yorker Cop Jimmy »Popeye« Doyle alias Gene Hackman an der Kaimauer nachjagt. Dieser Dreh bezieht minutenlang die einmalige Stadtkulisse Marseilles um den Vieux Port mit ein. Eine cineastische Glanzleistung. Ganz im Gegensatz dazu vermeidet der italienische Erfolgsautor Massimo Carlotto in seinem neuesten Krimi Die Marseille Connection jegliche Anspielung auf das Lokalkolorit der europäischen Kulturhauptstadt von 2013. Über die Gründe kann HUBERT HOLZMANN nur spekulieren.carlottoMassimo Carlottos Marseille Connection ist ein sehr moderner Krimi, beinahe ein Thriller: international angelegt, temporeich, mit einer hohen Taktung an Verbrechen und »action«. Die Marseille Connection – als Ausdruck eines international operierenden Verbrechens – handelt daher auch weltweit: in Prypjat, einer Geisterstadt in der Nähe von Tschernobyl, in Paraguay, in der Schweiz und natürlich in der diesjährigen europäischen Kulturhauptstadt, deren geostrategische Lage als Tor nach Afrika noch immer auszeichnet.

An diesen ganz verschiedenen Orten agiert die Dromos-Gang, eine Vierergang aus durchaus universitär gebildeten jungen Menschen, die sich ihr Auskommen mit mehr als dubiosen Mitteln zu verdienen suchen: Subventionsbetrug, Menschen- und Organhandel, Handel mit Giftmüll, mit Drogen und Geldwäsche. Das Spektrum ist komplett abgedeckt. Marseille ist ihre Bühne und Drehscheibe, auf der sie den Kontakt zur Gesellschaft suchen. Hier wollen sie ihr Geld sauber waschen, auf das politisch-ökonomische Leben Einfluss ausüben.

Kein Buch für schwache Nerven

Doch machen sie die Rechnung ohne den Wirt bzw. die Wirtin: die Kommissarin Bernadette Bourdet, kurz B.B., die in der inoffiziellen Brigade Anti-Criminalité (BAC) in Marseille operiert und das organisierte Verbrechen durch äußerst illegale Methoden bekämpft. Diese verdeckte Antimafia-Einheit der Polizei bestand in Marseille tatsächlich und wurde erst vor einiger Zeit wegen der Kritik an ihrem extrem hohen Gewalteinsatz aufgelöst.

Extreme Gewalt und dramatische Spannung auf allen Seiten – Mafia, Drogenbanden, Auftragskiller, BAC – ist auch das Markenzeichen von Massimo Carlottos neuem Krimi Die Marseille Connection, der keinem klassischen Krimischema folgt, indem er bestimmte Pointen setzt und Höhepunkte ansteuert. Carlotto lässt Einschlag auf Einschlag folgen: Menschen, deren Organe benötigt werden, verschwinden, recherchierende Journalisten werden kaltblütig entsorgt, Frauen als Sexualobjekt stilisiert und in die Prostitution abgeschoben, Gegner kalkuliert niedergemetzelt. Kalaschnikows so gewöhnlich wie Smartphones und schnelle Autos.

Skandalautor und Opfer von Verschwörung

Dabei muss man zugeben, dass Carlotto nicht die üblichen Klischees von Bandenkrieg, Mafia, organisierter Kriminalität zeichnet. Vermutlich Ausdruck seiner eigenen Biografie. Geboren 1956 in Padua wird der Autor von zahlreichen Kriminalromanen in den 1970er-Jahren als Sympathisant der extremen Linken für Mordes angeklagt und zu Unrecht verurteilt. Ihm gelingt nach sechs Jahren die Flucht, taucht in Paris und Mexiko unter, wird später jedoch gefasst und an Italien ausgeliefert. Erst 1993 wird er vom italienischen Staat begnadigt.

Vielleicht ist dies ein Grund dafür, dass seine Romane exakte Schilderungen davon geben, wie die moderne organisierte Kriminalität strukturiert ist: Eben absolut ökonomisch orientiert, international operierend und selbstredend vollkommen ohne ethisch-moralische Einschränkung. Ein Familienkodex wie in der alten italienischen Mafia ist hier überholt. Die vier Verbrecher der Dromos-Gang sind moderne Gangster: der Killer Katajew aus den Reihen des früheren KGB, der italienische Organhändler Cruciani, der Inder Banerjee, der auch im internationalen Kapitalmarkt zu Hause ist und die Schweizerin Inez Theiler, die als Angestellte einer Schweizer Bank Kontakte zu Geschäftspartnern vermittelt.

Die Kriminellen der alten Garde bleiben auf der Strecke. Die Opfer sind: Kleinkriminelle und Drogenhändler, die für die vier nicht zählen, ein alter Marseiller Mafiapate, der gnadenlos niedergemetzelt wird, und eine Dame des russischen Ex-Geheimdienstes, die durchaus als nächstes Bondgirl posieren könnte, mit ihrer Lust am Töten und an potenten Männern. Kein soziales Netz gibt es auch für die eingewanderten Südamerikanerinnen – erotisches Spielzeug für die Drogenbosse. In diesen Passagen zeigt sich jedoch auch Carlottos sozialkritisches Gespür: Seine Kommissarin B.B. setzt sich für diese Vergessenen ein, entreißt sie den kriminellen Jungs, sorgt für ein solideres Umfeld.

Drogen, Pech und Pannen

Bernadette Bourdet ist eine besondere Polizistin: In ihrer täglichen Arbeit gegen die Mafia sind illegale Verhör- ja schon beinahe Foltermethoden an der Tagesordnung. Sie arbeitet mit ihren beiden Assistenten undercover in den nördlichen Brennpunkten der Stadt, baut V-Männer auf und lässt sie wieder fallen und hält Kontakte zum alten korsischen Mafiapaten Grisoni. Sie kämpft gegen den neu aufkeimenden Drogenhandel mit harten Drogen, die durch sozial untere Einwandererschichten eingeführt werden, und versucht in ihrer Stadt eine Eskalation der Bandenkriege zu vermeiden.

B.B. kämpft trotz aller illegalen Einsatzmethoden einen Einsatz aufseiten der Guten. Es ist ein Kampf gegen Windmühlen. Oberflächlich hat sie kleine Erfolge. Doch grundlegend kann sie nichts ändern. Denn die Gewalt in Marseille ist Ausdruck der immensen sozialen Probleme und der Armut in der Stadt. Und B.B., die mit ihren moralischen Prinzipien gegen soziale Missstände eintritt, und gegen politische Korruption in der Stadt vorgehen will, muss erleben, wie sie von ganz oben zurückgepfiffen und degradiert wird.

B.B. ist keine heldenhafte Ermittlerin und Polizistin. Auch sie ist im Grunde genommen eine gebrochene Persönlichkeit, eine einsame, geschlagene Frau, die zu tiefst deprimiert und auch angewidert von ihrer Arbeit ist. Dennoch hat sie zugleich einen extrem starken Charakter, sie gibt nicht auf, kämpft für die Rechte unterdrückter Frauen. Sie selbst besucht als Lesbe regelmäßig ein Edelbordell in Marseille, bekommt hier manchen Hinweis für ihre Ermittlungen in der Marseiller Unterwelt, genießt aber auch so manche junge Schönheit.

Was ist Marseille?

Massimo Carlotto ersetzt die Handlungsorte in seiner Marseille Connection durch die Angaben von Koordinaten. Das ist präzise, lässt das Ziel schnell ansteuern. Das Lese-Navi gibt extrem genaue Orientierung. So schnell und universell er jedoch das Fresko der neuen organisierten Kriminalität an die Wand zeichnet, so wenig plastisch malt er allerdings die besondere Stadtkulisse der südfranzösischen Hafenstadt. Carlotto malt kein »Tor nach Afrika«, es gibt keine pieds-noirs, keine Algerierfranzosen. Das Großprojekt Euromediterannée, das Milliarden verschlang, ist kein Thema. Der Blick erhebt sich nicht zur golden glänzenden Kuppel von Notre-Dame de la Garde auf der Anhöhe neben dem alten Hafen. Auch kein Panier-Viertel, keine Canebière, keine versteckten Buchten der Calanques.

Auch kulinarisch kann Massimo Carlottos Krimi Die Marseille Connection nicht mithalten mit Autoren wie Jean-Claude Izzo, dessen Polizist Fabio Montale in seiner Marseille-Trilogie Total Cheops, Chourmo und Soléa (1995-1998) außerhalb der Hafenstadt undenkbar wäre. Der Italiener Massimo Carlotto meidet alles Sinnliche. Kein provenzalisches Aioli, keine Bouillabaisse, kein Pastis, kein Paternel. Schade! Carlotto gehört scheinbar doch zur neuen schnelllebigen Autorengeneration, die diesen lokalen Firlefanz nicht braucht.

Allerdings braucht es nicht das Gegenteil. Auf Magenverstimmungen und Großes Fressen verzichtet man als Leser gerne. Denn was beispielsweise bei Martin Walker und seinem Kommissar Bruno zu Gourmet-Kitsch aus dem Périgord wird und allein neureiche Upper-Class-Leser betören mag, ist denn doch des Guten zu viel. Allein fehlt lokalem Veganismus, wie von Carlotto exerziert, dann ebenfalls der Reiz. Carlotto rast über Details hinweg, hält sich nicht mit Beschreibungen auf. Es muss rumpeln in der Kiste. Ihm genügt eine klar dimensionierte Story, die Beispiel geben soll für die neuen kriminellen Entwicklungen und Strukturen in der Welt. Carlottos Krimi also doch versteckte Sozialkritik?

Als Rezipient könnte man eher versucht sein, Die Marseille Connection probehalber an einen anderen Küstenort zu verlegen. Warum nicht Genua oder Istanbul? Vermutlich würde dies ebenso funktionieren. Oder auch dort würde es an Leben, an Statisten, Kulisse, Hintergrund fehlen. Für einen Marseille-Krimi genügt daher nicht, ein paar Animierdamen tanzen zu lassen, angesagte Clubadressen zu jonglieren und Taxis fahren zu lassen, um einen Ort wie Marseille lebendig zu machen. Massimo Carlottos Roman Die Marseille Connection wird so zur extrem platten Westernkulisse, die durch extreme Gewalt nicht lebendiger wird. Massimo Carlotto ist bestimmt ein genauer Kenner der neuen organisierten Kriminalität. Allerdings fordert sein matter Showdown am Schluss den Lesern schon ganz besonders »starke« Nerven ab.

| HUBERT HOLZMANN

Titelangaben
Massimo Carlotto: Die Marseille Connection
Aus dem Italienischen von Hinrich Schmidt-Henkel
Stuttgart: Tropen 2013 (Klett-Cotta)
239 Seiten. 18,95 Euro

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