In Frankreich ist er ein Star und vielfach prämiert. Im deutschsprachigen Raum kennt man ihn bisher kaum. Nun hat der Suhrkamp Verlag in seiner von Thomas Wörtche kuratierten Reihe mit internationalen Kriminalromanen einen ersten Text von Hervé le Corre publiziert. Und der ist so dunkel, wie es sein Titel verspricht. Allenfalls über seine poetische Sprache lässt er ein wenig Hoffnung ein. Aber die ist nicht von Dauer im Leben der drei Personen, die le Corre ins Zentrum seines Buchs gestellt hat: einen Polizisten, eine alleinstehende junge Mutter und einen Serienmörder. Ihre Wege verfolgt Durch die dunkelste Nacht, bis sie, nachdem sie eine ganze Weile nebeneinanderhergelaufen sind, sich schließlich treffen. Und en passent wirft der Autor dabei auch noch einen Blick auf die aktuelle Stimmungslage in unserem westlichen Nachbarland – eine Analyse, die alles andere als zukunftsfroh stimmt. Von DIETMAR JACOBSEN
Jourdan ist Polizist. Commissaire bei der Police Judiciaire in Bordeaux. Beinahe täglich wird er mit Leichen konfrontiert. Steht vor ermordeten Kindern und von ihren Ehemännern getöteten Frauen. Erlebt permanent Dinge, die ihn so sprachlos wie wütend machen. Bis sogar seine Ehe an seinem verbissenen Schweigen zerbricht. Da beschäftigt ihn gerade der Fall einer Frau, die von ihrem ehemaligen Lebensgefährten gestalkt und eines Tages in ihrer Wohnung überfallen und vergewaltigt wurde: Louise. Von Anfang an fühlt er sich zu der als Haushaltshilfe bei älteren Menschen arbeitenden alleinstehenden Mutter hingezogen. Und sie beruhigt es, dass da ein Mann ist, an den sie sich in ihrer Not jederzeit wenden kann, ohne dass er dafür das einfordert, was gewöhnlich Männer einfordern, wenn sie sie näher an sich heranlässt.
Drei Menschen in Bordeaux
Ohne Sam, den Sonnenschein in ihrem Leben, hätte Louise ohnehin längst aufgegeben. Ihr achtjähriger Sohn kann sie zwar noch nicht vor ihrem gewalttätigen Ex Lucas beschützen. Aber tapfer legt er sich in der Nacht vor die Schlafzimmertür der Mutter. Die träumt von einer besseren Zukunft für sich und den Kleinen. Irgendwo weit weg will sie mit Sam ganz neu anfangen. Denn sie hat schwere Zeiten hinter sich. Nach dem Unfalltod ihrer Eltern – wahrscheinlich einem verkappten gemeinsamen Selbstmord des Paars, nachdem die Mutter an Krebs erkrankt war – suchte sie für eine Weile Trost in Alkohol und Drogen. Und auch die Menschen, denen sie im Haushalt hilft, leben nicht unbedingt m Glück. Alter und Krankheiten haben den meisten zugesetzt und sie verbittert werden lassen, was den Umgang mit ihnen alles andere als leicht macht.
Und dann ist da noch Christian, ein Serienmörder, getrieben von blindem Hass und vor nichts zurückschreckend. Er hat sein grausames Handwerk als Elitesoldat in Auslandseinsätzen gelernt. Auch sein Verhältnis zur Mutter ist ein besonderes: Er sucht nach ihrer Anerkennung, obwohl er seit seiner Kindheit ihre »ganz alltägliche Boshaftigkeit« ertragen muss. »Dieser Frau komme ich lieber nicht zu nahe. Sie hat Tote im Schlepptau. Gegen ihre Macht kann ich nichts ausrichten. Zum Glück weiß sie nicht, dass sie sie hat«, äußert sich eine Nachbarin, der die Polizei wichtige Hinweise auf den gesuchten Mörder verdankt, gegenüber Jourdan.
Siege, die Niederlagen gleichen
Drei Menschen, deren Schicksale Hervé le Corre sich kreuzen lässt. Praktisch von der ersten Seite, vom ersten Satz an, in dem Signalwörter wie »düster«, »unbeweglich«, »starr« und »träge« – aus dem Französischen hat Anne Thomas le Corres Text mit viel Gefühl für Nuancen übersetzt – den Ton setzen. Er wird sich im Laufe der folgenden knapp 300 Seiten nur selten ändern. Allein das Verhältnis von Louise zu ihrem kleinen Sohn lässt gelegentlich für kurze Momente etwas Helligkeit in den Text. Doch das wird schnell wieder verdrängt, denn Freude oder gar Glück sind Fremdwörter in einer Welt, in der jeder seinen eigenen Dämonen ausgeliefert ist. Selbst wenn sich die eine oder andere Figur für kurze Momente einmal als Sieger fühlen darf, so lauert doch hinter jedem kleinen Sieg bereits die nächste Niederlage.
Durch die dunkelste Nacht ist genauso wenig ein Wohlfühlbuch, wie die Welt von heute generell nicht dazu einzuladen scheint, sich in ihr wohl und geborgen zu fühlen. Hervé le Corre lässt keinen Zweifel daran, dass er kaum noch Optimismus besitzt, was unsere Gegenwart und die zu erwartende Zukunft betrifft. Seine Figuren bewegen sich durch den »großen gruseligen Karneval« des Lebens, indem sie ihr wahres Selbst verbergen »unter ihrer zuvorkommenden Maske, umhüllt und ummantelt von ihren Gewändern, als zivilisierte Wesen verkleidet, […], bemüht, den Zustand permanenter Brunst zu bezwingen, die Gewalt, die Machtphantasien, die Mordgelüste, diese animalischen Triebe, die sie Liebe, Lust und Ehrgeiz nennen.«
Keine Chance. Nirgends
Selbst Jourdan, der Polizist, dessen Aufgabe darin besteht, die öffentliche Ordnung und Sicherheit aufrechtzuerhalten, eine Aufgabe, die er ernst nimmt, auch wenn darüber seine Ehe zerbrochen ist, fühlt sich längst »nicht mehr zugehörig, wie ein entwurzelter Baum, der von einem gleichgültigen Strom weit fortgespült wird.« Dass ihm das Leben am Ende dann doch noch einmal eine Chance zu geben scheint, neben all den Bildern von Verwüstung und Mord, die er tagtäglich sehen muss, auf einmal ein Gesicht auftaucht, in dem sich Vertrauen und vorsichtige Zuneigung spiegeln, ist so unerwartet wie wundervoll. Doch leider auch nicht von langer Dauer.
Titelangaben
Hervé le Corre: Durch die dunkelste Nacht
Berlin: Suhrkamp 2023
340 Seiten. 17 Euro
| Erwerben Sie diesen Band portofrei bei Osiander
Reinschauen
| Leseprobe