Roman | Uwe Timm: Vogelweide
Würde man Uwe Timms Helden in seinem neuen Roman Vogelweide einer bestimmten Großwetterlage aussetzen, so doch eher einer, die durch einen fallenden Barometerstand angezeigt wird. Ob sich Eschenbach – so heißt der nicht nur vom Wetter Geplagte – nun dem Tief Bea, Selma oder Anna aussetzt, immer scheint er auch einem femininen Gegenwind zu trotzen. Die Geschichte über einen Steh-auf-Mann der besonderen Art hat HUBERT HOLZMANN gelesen.
Uwe Timm erzählt in seinem neuen Roman Vogelweide die Geschichte zweier Paare, die eigentlich glücklich sind. Dieses harmonische Gefüge gerät jedoch in Unruhe, weil einer der beiden Männer die Frau seines Gegenübers begehrt. Eigentlich also eine alte Geschichte. Und schon Goethe hat dieses Spiel von Auflösung und Wechsel in seinen Wahlverwandtschaften mit einer chemischen Reaktion vergleichen. Doch nun noch einmal von vorne und etwas weniger technokratisch.
Eschenbach, die zentrale Figur des Romans, ist ein Aufsteiger und echter Erfolgstyp. Mit seiner IT-Firma hat er es zu einigem Reichtum gebracht, kann sich eine moderne Luxuswohnung am Berliner Tiergarten leisten, jettet nicht nur beruflich in europäische Hauptstädte, fährt einen extravaganten alten Saab und sammelt Kunst. Dazu kommt die nötige Sicherheit und Grandezza im Umgang mit seinen Mitmenschen. Seine Lebensgefährtin ist Selma, die indianischen Silberschmuck herstellt und seinem Leben durch ihr Künstlerinnendasein einen Hauch von Exotik verleiht.
Der Glanz der Augenblicke
Bei einem Vortrag begegnet Eschenbach nun Anna, einer Kunst- und Lateinlehrerin, die glücklich mit einem Stararchitekten verheiratet ist, zwei Kinder hat und die »Szene«-Termine der Berliner Society wahrnimmt. Diese erste Begegnung zwischen den beiden schildert Uwe Timm en passant, fast etwas lapidar und löst doch sein Begehren aus: »Sie setzte sich neben ihn, einen Stuhl frei lassend. Während des Vortrags (Was heißt Stadtplanung heute?) hatte er seine Hand auf denn freien Stuhl gelegt, und als er einmal kurz hinüberblickte, sah er ihre Hand … direkt neben seiner liegen… doch voller Bedeutung, denn nach einem kurzen Blick und einem einvernehmlichen Lächeln zogen beide zur gleichen Zeit die Hände weg.«
Die beiden Paare sehen sich bei einer Vernissage wieder, unterhalten sich, gehen zusammen essen. Eschenbach und Anna kommen einander näher. Auch Selma und der Architekt Ewald verstehen sich blendend. Und so kann man eins und eins zusammenzählen: Eschenbach und Anna treffen sich in Bars, mieten sich für ihre Affäre in Hotelzimmer ein. Bis Anna das Verhältnis beendet. Doch da ist der Punkt bereits erreicht, an dem der scheinbar unendliche Anstieg und Aufschwung längst gekippt ist: Eschenbachs Firma geht bankrott, sein Besitz wird zwangsversteigert. Die Affäre kommt ans Tageslicht. Anna wird den Architekten verlassen und in den USA eine erfolgreiche Kunstgalerie betreiben. – Soweit die Story.
Ebbe und Flut aus der Vogelperspektive
Uwe Timm erzählt die Geschichte dieser beiden Paare aber nicht linear als Märchen einer unglücklichen Liebe. Er beginnt ganz am Ende bei seinem Helden Eschenbach. Diesen lässt er im Exil auf der Nordseeinsel Neuwerk »stranden«, wo er die Stelle des Vogelwarts antritt. Eschenbach ist von der Gesellschaft ausgestoßen, lebt von Hartz-IV, ist ein Vergessener. Dort im Vogelschutzgebiet steckt er sein Leben ab. Ordnet es, schafft sich in diesem Reservat sein künstliches Paradies. Ohne Geld. Ohne gesellschaftliche Verpflichtung. Ohne Bindung. Sechs Jahre nach seinem Absturz. Ebbe im Bereich seiner Finanzen. Ebbe auch vor Ort an der Nordsee.
In diesem Experimentierfeld erzählt Uwe Timm nun die Geschichte rückblickend: vom 68er-Theologie-Studenten Eschenbach, von seiner Exfrau, der Tochter Sabrina, dann der Bekanntschaft mit Selma am Winterfeldplatz, von der Griechenlandreise, dem Schamanen Harald. Und so erwachen im »Sturm« der Insel Neuwerk die Geister der Vergangenheit aus Eschenbachs zu neuem Leben. Er blickt auch zurück auf seine ersten literarischen Versuche, auf ambitionierte Gedichte, sein Interesse an der biblischen Jonas-Figur, auf eine Projektstudie über das Begehren und die Berechenbarkeit von glücklichen Beziehungen, für die er den Auftrag von einer altehrwürdigen Dame vom Bodensee, der »Norne aus dem Garten der Hesperiden«, hinter der sich Frau Nölle-Neumann verbirgt, erhält.
Zwischentöne und Minnemythos
Eschenbach ist ein komischer Vogel. Von sich selbst spricht er distanziert in der dritten Person. Er entschuldigt sich für den Namen seiner Tochter Sabrina. Er versucht keinen Neuanfang. Gestrandet wie Odysseus auf Nausikaa lebt er fern der Zivilisation. Auch Annas Telefonanrufe, in denen sie nach Jahren der Schweigens ihren Besuch bei Eschenbach auf der Insel ankündigt, bringen ihn nicht wirklich durcheinander. Er sammelt Strandgut, entsorgt den angeschwemmten Müll, beobachtet Vögel. Zum Beispiel den Kampfläufer. Eschenbach zitiert hier sogar aus Brehms Tierleben. Die Balgereien der Männchen und ihre Paarungszeit als Metapher für den Kreislauf des Lebens?
Eschenbachs Begehren ist zu einem Stillstand gekommen. Er zeigt am Schluss des Romans Anna seine Insel. Zu einer Begegnung wie früher kommt es nicht mehr. Schluss mit »Endorphinen«, dem »Strahlen der Augen«, derselben »Wellenlänge«. Beide haben ihr Leben gelebt. Kennen die Spielregeln. Und können nun Abschied nehmen. So klischeehaft manche Episode in Uwe Timms Roman Vogelweide auch wirken mag, so feinsinnig ist doch gleichzeitig sein Blick auf unsere Gesellschaft. Uwe Timms Erzählkunst hypnotisiert.
| Hubert Holzmann
Titelangaben:
Uwe Timm: Vogelweide
Köln: Kiepenheuer & Witsch 2013
335 Seiten. 19,99 Euro
Uwe Timm im TITEL-Kulturmagazin