Panorama von ganz unten

Roman | Clemens Meyer: Im Stein

»Das Leben in all seinen Facetten hat mich immer interessiert. Wenn ich Zeitung lese, dann stolpere ich immer über diese schlimmen Dinge«, gestand Clemens Meyers kürzlich in einem Interview mit Ulrich Wickert. Jetzt legt er seinen neuen Roman Im Stein vor. – Eine Besprechung von PETER MOHR
Meyer - Im Stein
Der heute 36-jährige Autor Clemens Meyer ist seit seinem Debütroman Als wir träumten (2006), in dem er ungeschönt über die social underdogs aus dem Leipzig der Nachwendezeit erzählte, in aller Munde. Auch in seinen 2008 erschienenen und mit dem Preis der Leipziger Buchmesse ausgezeichneten Erzählungen Die Nacht, die Lichter stehen gescheiterte Figuren im Mittelpunkt – Menschen, die im Nachwende-Dickicht den Anschluss verloren haben, denen nicht mehr bleibt als die nackte Existenz.

Wie nicht anders zu erwarten, beleuchtet Meyer auch in seinem neuen opulenten Roman Im Stein die Schattenseiten unserer Gesellschaft. In einer Großstadt, die Leipzig nicht unähnlich ist, verknotet er diverse Lebensläufe, die sich im Rotlichtmilieu kreuzen. Das Milieu fungiert auch als ökonomisches Spiegelbild, die Gesetze von Angebot und Nachfrage sind das Maß der Dinge. Hier toben noch die alten Grabenkämpfe zwischen »Ossis« und zugewanderten »Wessis«, und die Schere zwischen Reichtum und Armut geht immer weiter auseinander. Brutale Ausbeutung gepaart mit einer wahnhaften Profitgier lassen hier im Milieu eine hypermoderne und besonders perfide Spielart des Kapitalismus entstehen.

Mittendrin tummelt sich Arnold Kraushaar (auch »Arnie« oder »AK« genannt), der zu horrenden Tagespauschalen Wohnungen an Prostituierte vermietet. Er fühlt sich nicht als Zuhälter, sondern als moderner Dienstleister, der sich um die Geschäfte der selbständigen »Nutten« kümmert. »Wenn ich die ganze Zeit ich selbst bin, würde es nicht gehen«, beschreibt eine der Prostituierten eine selbst verordnete Persönlichkeitsspaltung, die es ihr ermöglicht, den »Job« und das Milieu zu ertragen.

In diesem Umfeld, das Meyer »Eden City« nennt, tummeln sich jede Menge halbseidene Figuren, denen sich der Autor geradezu liebevoll widmet: der Lude Steffen, der ehemalige Kripobeamte Pieszeck, der zu Arnies Handlanger wird, die Prostituierten Lilli und Mandy und die Angehörigen der zwielichtigen Engel GmbH. Machtkämpfe mit ganz harten Bandagen und daraus resultierende Abhängigkeitsverhältnisse prägen den von Clemens Meyer kenntnisreich und knallhart beschriebenen Szene-Alltag. »Das Geld fließt und fließt, meist in beide Richtungen, rein und raus«, heißt es nüchtern über den Kapitalfluss.

Clemens Meyers Stil ist immer noch gewöhnungsbedürftig, diese harte umgangssprachlich-juvenile Sprache und des Autors Affinität zum Zynismus. Meyer sucht nach den Tragödien, sich hinter dem geschäftigen Treiben des Milieus verbergen. In vielen inneren Monologen erschließen sich hoffnungslos verkorkste Lebensläufe. Der Romantitel könnte einerseits auf die urbane Metropole hinweisen, er lässt sich aber auch symbolisch als Zustandsbeschreibung für das Gros der Figuren interpretieren, dass sie nämlich Gefangene sind, von (unsichtbaren) Mauern umgeben. Meyer selbst erklärte. Die Figuren sind »Teile unserer Gesellschaft und moralisch genauso integer oder nicht wie ein Investmentbanker, ein Manager, ein Vorstandsboss oder wer auch immer.«

Das klingt non-konformistisch und rebellisch,  so wie man es von diesem Autor gewohnt ist, der sich auch stilistisch nach wie vor in einer Nische abseits des Mainstreams tummelt. Im Stein, dieses große gesellschaftliche Panorama-Wortgemälde von »ganz unten« liest sich, als hätten Charles Bukowski, Wolf Wondratschek und Wolfgang Hilbig gemeinsam an ihm geschrieben.

| PETER MOHR

Titelangaben
Clemens Meyer: Im Stein
Frankfurt/M.: S. Fischer Verlag 2013
560 Seiten. 22,99 Euro

Reinschauen
Leseprobe
Clemens Meyer in TITEL-Kulturmagazin

Ihre Meinung

Your email address will not be published.

Voriger Artikel

Köpfchen muss man haben!

Nächster Artikel

Indiana Jones in Brasilien

Weitere Artikel der Kategorie »Roman«

Terroristenjagd ohne Terroristen

Roman | Franz Dobler: Ein Schuss ins Blaue Zum dritten Mal nach Ein Bulle im Zug (2014) und Ein Schlag ins Gesicht (2016) schickt Franz Dobler seinen Ex-Bullen Robert Fallner auf Verbrecherjagd. Diesmal winkt dem in der Sicherheitsfirma seines Bruders Hans Tätigem sogar eine nicht unbeträchtliche Summe, sollte es ihm und seinen Kollegen gelingen, einen islamistischen Extremisten dingfest zu machen, bevor der größeren Schaden anrichten kann. Aber warum verhält sich dieser Iraker so gar nicht wie ein Terrorist, während sich die Atmosphäre um ihn und seine Beobachter herum von Tag zu Tag mehr mit Fremdenfeindlichkeit auflädt? Von DIETMAR JACOBSEN

Hoch über dem See

Roman | Bodo Kirchhoff: Seit er sein Leben mit einem Tier teilt

»Er lässt kaltes Wasser über sich laufen, minutenlang, als könnte es ihn so auflösen wie den Schweiß auf seiner Haut und im Abfluss verschwinden lassen«, heißt es über Louis Arthur Schongauer, die Hauptfigur in Bodo Kirchhoffs neuem Roman. Schongauer steht kurz vor seinem 75. Geburtstag, hat zwei Frauen auf tragische Weise verloren und sich in ein abgelegenes Haus über einem See zurückgezogen. Ein See, der dem Gardasee, wo Autor Kirchhoff einen Zweitwohnsitz hat, nicht unähnlich ist. Von PETER MOHR

Wein und windige Websites

Roman | Deon Meyer: Icarus Die Leser von Deon Meyer haben mit Bennie Griessel schon einiges durchgestanden – private Enttäuschungen, Rückschläge im Beruf und Alkoholentzug. Aber immer hat sich der weiße Polizist vom Kap wieder aufgerafft. Und er hatte Menschen, die ihm dabei zur Seite standen. Befreundete Kollegen, die Sängerin Alexa Barnard, mit der er liiert ist, seine beiden Kinder, zu denen er losen Kontakt hat. Doch als er im aktuellen Roman Icarus erleben muss, wie einer seiner Kollegen sich selbst, seine Frau und seine beiden Töchter erschießt, weil er die eskalierende Gewalt um sich herum nicht mehr ertragen kann,

Die gefälschte Biografie

Roman | Javier Cercas: Der falsche Überlebende »Marco ist doch wie für dich gemacht! Du musst über ihn schreiben!« Mit diesen Worten hat Nobelpreisträger Mario Vargas Llosa während eines Abendessens in Madrid seinem spanischen Kollegen Javier Cercas einen »Stoff« ans Herz gelegt, der 2005 in der spanischen Öffentlichkeit für einen Skandal gesorgt hatte. Eine Rezension von PETER MOHR

Unverhofftes Wunder

Jugendbuch | Karin Kaçi: Irgendwann in Istanbul In Zeiten, in denen hitzig über doppelte Staatsbürgerschaft, Migrationshintergrund und die Frage gestritten wird, wer in Europa wann und für wen die Schlagbäume öffnen oder herunterlassen soll, kommt ein Jugendroman daher, das Cover viel zu rosarot und mit viel zu vielen Herzchen, und führt die ganze Problematik zu denen zurück, die sie angeht. Gelesen von MAGALI HEISSLER.