Sich selbst neu erfinden

Roman | Birgit Birnbacher: Ich an meiner Seite

Die Mehrdeutigkeit von schillernden Inszenierungen und unsteten Lebensentwürfen scheint schon im Titel durch. Doch mehr noch: mit Ich an meiner Seite stellt die österreichische Autorin Birgit Birnbacher das allgegenwärtige Streben nach Selbstoptimierung ironisch infrage. Denn nicht nur Facebook und Instagram verleiten zur künstlichen Überhöhung der eigenen Person. Birnbachers soziologisch angehauchte Milieustudie begibt sich in die Welt der Kleinkriminellen und ihrer Wiedereingliederung. Von INGEBORG JAISER

Birnbacher - Ich an meiner Seite - 750Dass sie das Sozialarbeiter-Vokabular genauso sicher beherrscht wie einen scheinbar unbekümmerten Alltagstonfall, das hat Birgit Birnbacher bereits überzeugend bewiesen.

Die Durchlässigkeit von Milieus, Lebenswelten, Blickwinkel gehört auch zu den spannenden Sichtweisen ihres neuen Romans, der ganz am Ende staunend resümiert: »Wie nah alles beieinanderliegt, was der Mensch auseinanderhalten soll«.

Gehörig durcheinandergewirbelt und neu zusammengefügt ist vieles im jungen Leben von Arthur Galleij. Aufgewachsen in der lieblosen »Spackensiedlung« von Bischofshofen, gilt der zweitgeborene Sohn aus einer ungleichen Beziehung stets als ruhig, verschlossen, fast autistisch. »Er braucht wirklich nicht viel«, sagt man über das »Kind mit dem blassen Gesicht und den kantigen Schultern«. Der nichtsnutzige Vater macht sich früh aus dem Staub, Mutter Marianne rackert sich verbissen ab, bis sie sich und ihre Familie erfolgreich »ein paar Gesellschaftsschichten nach oben manövriert« hat.

Von der österreichischen Provinz ins sonnengleissende Andalusien, von einer talentlosen Köchin zur manikürten Geschäftsführerin einer Palliativklinik. Dabei kann ein anspruchsloses Kind schon mal auf der Strecke bleiben. Oder sich bei neuen Freunden falsche Fertigkeiten abschauen. Nach einem tragischen Unglücksfall flieht Arthur zurück nach Österreich und gerät vollends unter die Räder.

Lücke im Lebenslauf

Nach zwei Jahren Haft steht der inzwischen 22Jährige mittellos, wohnungslos, perspektivenlos wieder auf der Straße. Im Rahmen der Resozialisierungsmaßnahmen wird er dem schrägen Bewährungshelfer Dr. Konstantin Vogl, genannt Börd, zugewiesen: einem abgehalfterten Ewiggestrigen und Totalverweigerer mit »Bundesheerbrille«, blauem Arbeitsmantel und einem uralten Nokia-Handy aus dem letzten Jahrhundert. Sein unkonventionelles Therapiekonzept basiert darauf, dass sich seine Klienten in zehn Arbeitsschritten quasi neu erfinden, um als Optimalversion ihrer selbst in ein anständiges Leben zu starten. Doch wie soll das funktionieren, ohne festen Wohnsitz und Arbeitsplatz, mit einer verdächtigen Lücke im Lebenslauf?

Hier entwickelt sich Birnbachers Roman rasch zum Schelmenstück, in dem sich scheinbar vorgefertigte Rollen vertauschen und nichts so ist, wie es sich ein unbescholtener Bürger vorstellen mag. Der Ex-Knacki Arthur erweist sich als feinfühliger und intelligenter junger Mann, der selbstbewusst richtigstellt: »Jetzt werden Sie sagen: Klassiker, vaterloser Jugendlicher wird kriminell. Und gleich irgendwelche Kausalitäten einziehen, wo die gar nicht hingehören.« Während sich hinter dem Therapeuten Börd eine verkrachte Existenz verbirgt, der aufgrund seiner penetranten Ignoranz und Alkoholsucht aus sämtlichen Jobs gefallen ist und damit auch seinen ambitionierten Klienten erneut ins Aus katapultiert. Geschickt spielt Birnbacher mit fragwürdigen Rollenklischees und trügerischen Konzepten. Nicht einmal der Sprache ist zu trauen. Weshalb Arthur allein bei den Worten »Mehrfachbelegung« und »Notrufknopf« bleibend von den übelsten Flashbacks heimgesucht wird.

Erzählerische Verpflichtung

Auch in dieser doppelbödigen Milieu- und Mentalitätsstudie überzeugt die letztjährige Ingeborg-Bachmann-Preisträgerin Birgit Birnbacher mit ihrem gesellschaftskritischen Blick, gepaart mit sanfter Ironie. Kein Wunder: Als Soziologin und ehemalige Sozialarbeiterin schreibt sie aus professioneller Perspektive. Ihre fachlichen Connections ermöglichten erst das Casting für die Hauptfigur. Schließlich steckt hinter dem Protagonisten Arthur eine reale Person, ein tatsächliches Schicksal, auch wenn für den Roman viele biographische Details verändert wurden. Dennoch gilt, was die Autorin in einem Interview bekräftigt: »Ich spüre gegenüber meinen Figuren eine erzählerische Verpflichtung, ihnen würdig zu sein. Das funktioniert nur, wenn ich alles über sie weiß.«

Dem Leser offenbart sich die Story als kaleidoskopartiges Prisma, zusammengefügt aus verschiedenen Zeit- und Erzählebenen, Schauplätzen und Tatorten, angereichert mit herrlich schrägen Charakteren. Birnbachers lakonischer Erzählstil lässt mehrfache Deutungen zu. Unterschwellig wird der Sinn von Resozialisierungs- und Therapiemaßnahmen derart untergraben, dass sich selbst ein mögliches Happy End rasch verflüchtigt. Aber vielleicht ist das ganze Leben nur ein großer Schwindel?

| INGEBORG JAISER

Titelangaben
Birgit Birnbacher: Ich an meiner Seite
Wien: Zsolnay 2020
267 Seiten, 23 Euro
| Erwerben Sie diesen Band portofrei bei Osiander

Reinschauen
| Leseprobe

Ihre Meinung

Your email address will not be published.

Voriger Artikel

Der Prinz wird sich scheckig lachen!

Nächster Artikel

Endlich wieder Kultur!

Weitere Artikel der Kategorie »Roman«

Ein Stuntman faked seinen Tod

Roman | Ross Thomas: Der Fall in Singapur

Ross Thomas und der Berliner Alexander Verlag – das passt seit anderthalb Jahrzehnten. Von den insgesamt 25 Romanen, die der amerikanische Kultautor zwischen 1966 und 1994 schrieb, sind unter der Regie von Alexander Wewerka in dessen kleinem Berliner Verlagshaus inzwischen 20 erschienen. In wiedererkennbarer, schöner Aufmachung kommt die Reihe daher. Und die meisten Einzelbände bringen den kompletten Thomas-Text zum ersten Mal vollständig auf Deutsch. Nun also Der Fall in Singapur, Thomas' einziger Mafiaroman, wie der Verlag betont. Aber ob Mafia- oder Wirtschaftskrimi, Polit- oder Detektivthriller – der 1995 in Santa Monica verstorbene Ross Thomas schrieb immer auf einem Niveau, von dem 90 Prozent seiner Kolleginnen und Kollegen auch heute nur träumen können. Von DIETMAR JACOBSEN

Der Mensch ist wie eine Eisschicht

Romane | Als einer von uns Laura Salinas töten wollte / Der letzte Bolero

Obwohl es in beiden neuen Romanen Tote gibt, sind es mehr als Krimis. Benjamín Prado und der im letzten Jahr verstorbene Manuel Vázquez Montalban sorgen für fein gesponnenen psychologisch motivierten Nervenkitzel auf hohem Niveau. Von PETER MOHR

Fräulein Susans Gespür für Aufrichtigkeit

Roman | Peter Hoeg: Der Susan-Effekt Mit dem später von Bille August kongenial verfilmten und insgesamt über sechs Millionen Mal verkauften Roman ›Fräulein Smillas Gespür für Schnee‹ wurde der dänische Autor Peter Hoeg in den frühen 1990er Jahren weltberühmt. Danach hatte sich der öffentlichkeitsscheue Schriftsteller, der ohne Telefon und Fernsehgerät in einem kleinen jütländischen Dorf lebt, noch mit ›Die Frau und der Affe‹ (1996) und seinem geheimnisvollen Roman ›Das stille Mädchen‹ (2007) künstlerisch zu Wort gemeldet. Nun ist sein neuester Roman ›Der Susan-Effekt‹ erschienen. Von PETER MOHR

»Schatz, ich gehe nur kurz Zigaretten holen!«

Roman | Manfred Wieninger: Prinzessin Rauschkind – Ein Marek-Miert-Krimi Für einen Privat-Detektiv gibt es verschiedene Möglichkeiten, an neue Klienten zu kommen, beispielsweise das Aufgeben einer Anzeige. Wem das zu spießig erscheint, der könnte auch den Polizeifunk abhören und Einbruchsopfern seine Dienste offerieren. Auch Marek Miert, seines Zeichens Harlands erster und bislang einziger Diskont-Detektiv mit Hang zu Mozartkugeln und erlesenem Rotwein, stünden diese Wege offen. Vorgestellt von STEFAN HEUER

Realität aus zweiter Hand

Thomas Glavinic: Der Kameramörder
Thomas Glavinic ist noch keine dreißig Jahre alt und legt nun nach ›Carl Haffners Liebe zum Unentschieden‹ (1998) und ›Herr Susi‹ (2000) mit ›Der Kameramörder‹ bereits seinen dritten vorzüglichen Roman vor. Einem ganz brisanten Sujet hat sich der gebürtige Grazer gewidmet: dem sensationslüsternen Boulevardjournalismus der privaten Fernsehsender. Von PETER MOHR