Die Mehrdeutigkeit von schillernden Inszenierungen und unsteten Lebensentwürfen scheint schon im Titel durch. Doch mehr noch: mit Ich an meiner Seite stellt die österreichische Autorin Birgit Birnbacher das allgegenwärtige Streben nach Selbstoptimierung ironisch infrage. Denn nicht nur Facebook und Instagram verleiten zur künstlichen Überhöhung der eigenen Person. Birnbachers soziologisch angehauchte Milieustudie begibt sich in die Welt der Kleinkriminellen und ihrer Wiedereingliederung. Von INGEBORG JAISER
Dass sie das Sozialarbeiter-Vokabular genauso sicher beherrscht wie einen scheinbar unbekümmerten Alltagstonfall, das hat Birgit Birnbacher bereits überzeugend bewiesen.
Die Durchlässigkeit von Milieus, Lebenswelten, Blickwinkel gehört auch zu den spannenden Sichtweisen ihres neuen Romans, der ganz am Ende staunend resümiert: »Wie nah alles beieinanderliegt, was der Mensch auseinanderhalten soll«.
Gehörig durcheinandergewirbelt und neu zusammengefügt ist vieles im jungen Leben von Arthur Galleij. Aufgewachsen in der lieblosen »Spackensiedlung« von Bischofshofen, gilt der zweitgeborene Sohn aus einer ungleichen Beziehung stets als ruhig, verschlossen, fast autistisch. »Er braucht wirklich nicht viel«, sagt man über das »Kind mit dem blassen Gesicht und den kantigen Schultern«. Der nichtsnutzige Vater macht sich früh aus dem Staub, Mutter Marianne rackert sich verbissen ab, bis sie sich und ihre Familie erfolgreich »ein paar Gesellschaftsschichten nach oben manövriert« hat.
Von der österreichischen Provinz ins sonnengleissende Andalusien, von einer talentlosen Köchin zur manikürten Geschäftsführerin einer Palliativklinik. Dabei kann ein anspruchsloses Kind schon mal auf der Strecke bleiben. Oder sich bei neuen Freunden falsche Fertigkeiten abschauen. Nach einem tragischen Unglücksfall flieht Arthur zurück nach Österreich und gerät vollends unter die Räder.
Lücke im Lebenslauf
Nach zwei Jahren Haft steht der inzwischen 22Jährige mittellos, wohnungslos, perspektivenlos wieder auf der Straße. Im Rahmen der Resozialisierungsmaßnahmen wird er dem schrägen Bewährungshelfer Dr. Konstantin Vogl, genannt Börd, zugewiesen: einem abgehalfterten Ewiggestrigen und Totalverweigerer mit »Bundesheerbrille«, blauem Arbeitsmantel und einem uralten Nokia-Handy aus dem letzten Jahrhundert. Sein unkonventionelles Therapiekonzept basiert darauf, dass sich seine Klienten in zehn Arbeitsschritten quasi neu erfinden, um als Optimalversion ihrer selbst in ein anständiges Leben zu starten. Doch wie soll das funktionieren, ohne festen Wohnsitz und Arbeitsplatz, mit einer verdächtigen Lücke im Lebenslauf?
Hier entwickelt sich Birnbachers Roman rasch zum Schelmenstück, in dem sich scheinbar vorgefertigte Rollen vertauschen und nichts so ist, wie es sich ein unbescholtener Bürger vorstellen mag. Der Ex-Knacki Arthur erweist sich als feinfühliger und intelligenter junger Mann, der selbstbewusst richtigstellt: »Jetzt werden Sie sagen: Klassiker, vaterloser Jugendlicher wird kriminell. Und gleich irgendwelche Kausalitäten einziehen, wo die gar nicht hingehören.« Während sich hinter dem Therapeuten Börd eine verkrachte Existenz verbirgt, der aufgrund seiner penetranten Ignoranz und Alkoholsucht aus sämtlichen Jobs gefallen ist und damit auch seinen ambitionierten Klienten erneut ins Aus katapultiert. Geschickt spielt Birnbacher mit fragwürdigen Rollenklischees und trügerischen Konzepten. Nicht einmal der Sprache ist zu trauen. Weshalb Arthur allein bei den Worten »Mehrfachbelegung« und »Notrufknopf« bleibend von den übelsten Flashbacks heimgesucht wird.
Erzählerische Verpflichtung
Auch in dieser doppelbödigen Milieu- und Mentalitätsstudie überzeugt die letztjährige Ingeborg-Bachmann-Preisträgerin Birgit Birnbacher mit ihrem gesellschaftskritischen Blick, gepaart mit sanfter Ironie. Kein Wunder: Als Soziologin und ehemalige Sozialarbeiterin schreibt sie aus professioneller Perspektive. Ihre fachlichen Connections ermöglichten erst das Casting für die Hauptfigur. Schließlich steckt hinter dem Protagonisten Arthur eine reale Person, ein tatsächliches Schicksal, auch wenn für den Roman viele biographische Details verändert wurden. Dennoch gilt, was die Autorin in einem Interview bekräftigt: »Ich spüre gegenüber meinen Figuren eine erzählerische Verpflichtung, ihnen würdig zu sein. Das funktioniert nur, wenn ich alles über sie weiß.«
Dem Leser offenbart sich die Story als kaleidoskopartiges Prisma, zusammengefügt aus verschiedenen Zeit- und Erzählebenen, Schauplätzen und Tatorten, angereichert mit herrlich schrägen Charakteren. Birnbachers lakonischer Erzählstil lässt mehrfache Deutungen zu. Unterschwellig wird der Sinn von Resozialisierungs- und Therapiemaßnahmen derart untergraben, dass sich selbst ein mögliches Happy End rasch verflüchtigt. Aber vielleicht ist das ganze Leben nur ein großer Schwindel?
Titelangaben
Birgit Birnbacher: Ich an meiner Seite
Wien: Zsolnay 2020
267 Seiten, 23 Euro
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