Die langen Schatten der Vergangenheit

Roman | Jane Harper: Die Suche

Seinen ersten Auftritt im Romankosmos der australischen Autorin Jane Harper hatte Kommissar Aaron Falk vor sieben Jahren. Hitze (2016) hieß das damals noch bei Rowohlt verlegte, preisgekrönte Romandebüt der 1980 Geborenen, in dem Falk nach 20 Jahren in seine Geburtsstadt zurückkehrt und den Tod von drei Mitgliedern einer Farmersfamilie aufklärt. Seinen nächsten Einsatz hatte er in dem Roman Ins Dunkel (2019). In der Unwegsamkeit des australischen Buschs musste er eine Frau finden, die verdeckt für die Polizei arbeitete und während eines Firmenevents spurlos verschwunden war. Nun, im dritten Roman mit Aaron Falk als Hauptfigur, zu dem sich Harper etwas länger Zeit genommen hat – zwischen Ins Dunkel und Die Suche entstanden zwei weitere Bücher – geht es erneut um eine vermisste Person. Im südaustralischen Weinland sucht Falk nach den Spuren einer vor einem Jahr während eines Festivals verschwundenen Frau. Von DIETMAR JACOBSEN

Dass seine Mutter verschwunden war, merkte man erst, als niemand sich um das auf einem lokalen Festival schlafend zurückgelassene Neugeborene in seinem Kinderwagen kümmern wollte. Von Kim Gillespie, deren Familie mit Bundesermittler Aaron Falk befreundet ist, findet sich trotz intensiver Suche in den nächsten Tagen, Wochen und Monaten keine Spur. Sämtliche Versuche, das Verschwinden der 39-Jährigen zu klären, laufen ins Leere, bis die örtliche Polizei den Fall zu den Akten legt.

Auch ein Jahr später, als Falk nach Marralee im südaustralischen Weinland zurückkehrt, um als Pate an einer Taufe teilzunehmen, besitzt man nicht mehr als einen im Wasser des nahegelegenen Stausees gefundenen Schuh der Verschwundenen. Weil das Schicksal der Frau aber auch dem Melbourner Polizisten keine Ruhe gelassen hat und ein schon etwas zurückliegender weiterer Todesfall ein paar Einwohner von Marralee immer noch umtreibt, beginnt Falk, noch einmal Fragen zu stellen. Und er merkt schnell, dass er sich auf sehr dünnem Eis bewegt und manche Einwohner wohl mehr wissen, als sie bisher zuzugeben bereit waren.

Eine Mutter verschwindet

Die 1980 in Manchester geborene, aber schon lange in Melbourne lebende, mehrfach prämierte Jane Harper, das haben ihre bisherigen vier Romane gezeigt, ist eine Meisterin in der Schilderung zwischenmenschlicher Konflikte. Ob sie hinter die Fassaden einer Familie (Zu Staub, 2018, deutsch 2020), einer Gruppe von zusammen Arbeitenden während eines Teambildungs-Events (Ins Dunkel, 2017, deutsch 2019) oder eines ganzen Küstendorfes (Der Sturm, 2020, deutsch 2022) blickt – immer geht es bei ihr um sorgfältig Verborgenes, Unausgesprochenes oder Verdrängtes.

Kommt das schließlich ans Licht – und immer ist da bei Harper einer oder eine, deren hartnäckiges Nachforschen erst dann endet, wenn die Dinge geklärt sind –, macht es die Hintergründe vergangener menschlicher Katastrophen urplötzlich verstehbar. Dabei müssen Letztere nicht unbedingt Resultate kaltherzig geplanter Verbrechen sein. Auch dem unglücklichen, oft allein durch Zufälle in Gang gesetzten Zusammenspiel verschiedener Faktoren, menschlichem Irren oder Versagen in bestimmten, herausfordernden Situationen räumt Jane Harper Platz ein. Und oft sind tatsächliche Verbrechen bei ihr erst die Folge vorangegangener Tragödien, die man damit zu verschleiern oder zu vertuschen sucht.

Ungelöste Todesfälle

Auf dem Marralee Valley Food and Wine Festival jedenfalls, das von Jahr zu Jahr mehr Besucher in die kleine Stadt lockt, ist das Ereignis, das die Veranstaltung vor genau einem Jahr so tragisch überschattete, immer noch in aller Munde. Weil damals aus Pietät die Taufe des kleinen Henry Raco verschoben wurde, ist ein Jahr später auch Aaron Falk, langjähriger Freund der Eltern des Täuflings und als Henrys Pate auserkoren, wieder in der Gemeinde. Er hat den weiten Weg ins südliche Weinland auch deshalb auf sich genommen, weil er hofft, dort Gemma Tozer wieder zu begegnen. Die ist die Leiterin des alljährlichen Festivals und hat Aaron, als man sich einmal in Melbourne traf, Anlass gegeben, mehr in ihr zu sehen als nur eine alte Freundin seines Polizistenfreundes Raco.

Auch Gemma und ihr Stiefsohn Joel verarbeiten im Übrigen noch immer einen inzwischen sechs Jahre zurückliegenden Unglücksfall, bei dem Joels Vater und Gemmas Mann Dean, nachdem ihn ein Auto angefahren hatte, dessen Fahrer sich seiner Verantwortung durch die Flucht entzog, im selben Stausee zu Tode kam wie offensichtlich Kim Gillespie. Allerdings wurde seine Leiche später geborgen, während Kims Schicksal immer noch Rätsel aufgibt. Die lösen sich auch nicht sofort, wenn Aaron Falk beginnt, noch einmal nachzuforschen. Stattdessen muss Harpers Held feststellen, dass es in den letzten Jahren im Marralee Valley noch einen dritten Todesfall gegeben hat. Der betraf die Tochter des örtlichen Polizisten Robert Dwyer, die nach einer wilden Party an ihrem eigenen Erbrochenen erstickte. Dass es zwischen Kims Verschwinden, dem Unfalltod Dean Tozers und dem tragischen Tod der jungen Caitlin Dwyer eine Verbindung geben muss, ahnt Aaron Falk. Doch es braucht Zeit, bis er den Zusammenhängen und damit auch den Tätern zweier Verbrechen auf die Spur kommt, die schon allzu lange ungesühnt geblieben waren.

Spuren in die Seele

Die Suche ist kein Roman für Leserinnen und Leser, die von einem Thriller nicht nur Suspense erwarten, sondern auch jede Menge Action. Die findet man bei Jane Harper – wenn überhaupt – lediglich jenseits der Schauplätze, auf die der Roman seinen Fokus richtet. Dass darunter auch die Spannung leidet, mögen manche so empfinden. Wer allerdings mehr an guten Dialogen als an Kinnhaken und Kugelhagel, mehr an großartigen Landschaftsbeschreibungen als an Autojagden, mehr an in ihrer ganzen Widersprüchlichkeit gezeichneten Figuren als an blitzenden Messern und blutigen Opfern interessiert ist, wird von Jane Harper nie enttäuscht sein. Denn diese Autorin legt ganz feine Spuren in das Innere ihrer Helden, versucht, sprachlich auch dem kaum Ausdrückbaren noch etwas abzugewinnen, und ist damit in ihrer Art eine wirklich singuläre Erscheinung in der derzeitigen australischen Spannungsliteratur.

| DIETMAR JACOBSEN

Titelangaben
Jane Harper: Die Suche
Aus dem Englischen von Matthias Frings
Berlin: Rütten & Loening 2023
382 Seiten. 22 Euro
| Erwerben Sie diesen Band portofrei bei Osiander

Reinschauen
| Mehr zu Jane Harper in TITEL kulturmagazin

Ihre Meinung

Your email address will not be published.

Voriger Artikel

Dem Täter auf den Fersen

Nächster Artikel

Tierische Schönheit

Weitere Artikel der Kategorie »Roman«

Wie Bonnie und Clyde

Roman | Ulrich Woelk: Mittsommertage

In der aufgestauten Hitze der Berliner Mittsommertage verdichten sich die Verwerfungen vergangener Dekaden und erschüttern manch allzu glattes Lebensarrangement. Zwischen einem unerwarteten Hundebiss, philosophische Gedanken zum Tierwohl und verdrängten Traumata können mehrere Wahrheiten liegen. Ulrich Woelks aktueller Roman wirbelt alle Gewissheiten durcheinander. Von INGEBORG JAISER

Hetzjagd auf die Puppe

Roman | Richard Flanagan: Die unbekannte Terroristin Der australische Autor Richard Flanagan ist im deutschsprachigen Raum einem breiteren Publikum erst 2014 durch seinen mit dem Booker-Preis ausgezeichneten Roman ›Der schmale Pfad durchs Hinterland‹ bekannt geworden – ein bedrückendes Werk über die Grausamkeiten in einem japanischen Kriegsgefangenenlager im Grenzgebiet zwischen Thailand und Birma. Nicht minder dramatisch und bedrückend geht es im nun in deutscher Übersetzung erschienenen Roman ›Die unbekannte Terroristin‹ zu, der im Original bereits zehn Jahre alt ist, aber dessen Handlung aktueller denn je wirkt. Von PETER MOHR

Trauer ist wie ein Schatten

Roman | Peter Zantingh: Nach Mattias

Was macht das Wesen eines Menschen aus? Was bleibt zurück, wenn er nicht mehr da ist? In seinem neuen Roman Nach Mattias nähert sich der niederländische Autor Peter Zantingh leichtfüßig, aus verschiedenen Blickwinkeln und doch auf einfühlsame Weise einem sehr elementaren Thema an. Von INGEBORG JAISER

Kommissar Daquin und die Büchse der Pandora

Roman | Dominique Manotti: Schwarzes Gold Nachdem zuletzt in der Ariadne-Reihe des Hamburger Argument Verlages vor allem ältere Bücher von Dominique Manotti erschienen sind, hat man mit Schwarzes Gold nun den jüngsten Roman der erst spät zum Schreiben gekommenen Wirtschaftshistorikerin auf Deutsch herausgebracht (Übersetzerin ist die im Verlag für Lektorat und Produktion verantwortliche Iris Konopik). Er besitzt alle Qualitäten, für die man seine Autorin seit dem Erscheinen ihrer Romane hierzulande rühmt, hat 2016 in Frankreich den Grand prix du roman noir gewonnen und präsentiert mit Théo Daquin eine Hauptfigur, die Manotti-Leser bereits kennen. Von DIETMAR JACOBSEN

Who you’re gonna be, Archie?

Roman | Paul Auster: 4 3 2 1 »Nur weil etwas auf eine bestimmte Weise geschah, hieß das noch lange nicht, dass es nicht auch auf eine andere Weise geschehen konnte«. Ein Junge – vier Leben. Alles ist möglich. Begeben Sie sich gemeinsam mit Archie Ferguson und MONA KAMPE in ein faszinierendes Gedankenspiel.