Am siebten Tag flog ich zurück, berichtet Arnold Stadler und eröffnet damit ein autofiktionales Spiel um Erinnerungen, Betrachtungen, (Kindheits)Träume. Im Mittelpunkt seines neuen Romans steht eine Reise zum Kilimandscharo, dem höchsten Bergmassiv Afrikas. Doch sind die schönsten Ziele nicht die, die man niemals erreicht? INGEBORG JAISER ist in Gedanken mitgereist.
Insgeheim sind wohl alle Romane des Georg-Büchner-Preisträgers Arnold Stadler Reisebücher, schwankend zwischen Fernweh und Heimweh. Zugleich ist die zugrunde liegende Sehnsucht in ihrer drängenden Gegenwärtigkeit auch das Gefühl der Stunde. Selten dürften wir als Leser empfänglicher, sensibler für dieses Thema gewesen sein. Denn im Moment sitzen wir alle irgendwie fest, so wie Arnold Stadler in den ersten 20 Jahren seines Lebens. Doch davon später mehr.
Flugscham und Sündenstolz
Hier die Vorgeschichte zum Buch: Als der Autor 2017 von einem großen deutschen Wochenmagazin den Auftrag erhält, für eine Beilage anlässlich der Berliner ITB einen Text über einen Sehnsuchtsort zu verfassen, sind die Begriffe CO2-Fußabdruck und Flugscham (man will es kaum glauben) noch nicht in aller Munde. Eine Nacht schläft Stadler über das Angebot. Er könnte ganz bescheiden über die Graf-Ludwig-Hütte im heimischen Wald von Schwackenreute schreiben. Oder über das wendländische Sallahn, wo er ein zweites Zuhause gefunden hat. Doch dann wählt er in tollkühner Forschheit den Kilimandscharo. Und fliegt hin. Mit etwas Geschick lässt sich seine wundervolle Reportage über die Reise nach Tansania mit ein paar Klicks im Netz wiederfinden.
Doch es ist, wie nebenbei, auch ein Roman entstanden. Darin tritt der Ich-Erzähler – mehr als ein bloßes Alter Ego des Verfassers – einen Flug nach Ostafrika an. Doch die heimliche Scham über die Kürze der Reise (aufgrund eines Anschlusstermins kann er kaum eine Woche bleiben) wird rasch relativiert vom Erstaunen über seine Mitreisenden aus der Business Class, die offenbar ohne Gewissensbisse zu einer dreitägigen Welternährungskonferenz jetten. In dieser Liga kann er nicht mitspielen, doch auch nicht bei den »kampfgeistartigen Trekkinghorden und all ihrem Gepränge«. Sein persönlicher Fahrer, der ihn bei der Ankunft empfängt, hat nur mitleidige Blicke übrig für den sonderbaren Gast, der so gar nicht mit dem tropengerechten Outfit eines »Kilimandscharobezwingers« ausstaffiert ist.
Jenseits von Eden
Doch was hat den Kilimandscharo zum persönlichen Sehnsuchtsziel gemacht? In der heimischen Stube überm Esstisch hing einst das Gemälde Der Kibo mit Palme des Stuttgarter Malers Fritz Lang (namensgleich, aber nicht identisch mit dem Filmregisseur). Ein für immer prägender Anblick für den Ich-Erzähler während seiner ersten 18 Lebensjahre, als er unwiderruflich in der Provinz festsaß, irgendwo in »Schwäbisch Mesopotamien«. Jetzt, als beinahe schon alter Mann, will er dem Kindheitstraum nachspüren, von Angesicht zu Angesicht. »Dorthin, wo der Mensch von heute das Paradies von einst ortete.«
Doch zuvor hat der Ich-Erzähler noch mit leichtem Widerwillen das Programm zu absolvieren, das die Reiseagentur für ihn ausgeheckt hat. Mit unterschwelligem Schaudern streift er durch das menschenleere Museum von Arusha, das eine Kolonialzeit dokumentiert, als der Kibo tatsächlich noch »Kaiser-Wilhelm-Spitze« hieß. Ängstlich lässt er eine Safari über sich ergehen, obwohl ihn die Furcht vor wilden Tieren peinigt. Überhaupt ist er nicht »Reinhold-Messner-artig« unterwegs, hat nichts mit der ehrgeizigen Outdoor-Fraktion gemein, die hinter jeder Ecke eine Challenge wittert.
So gleicht dieser Roman kaum einem abenteuerlichen Reisebericht, eher einer lakonischen, ironischen Selbstbetrachtung mit hintersinnigem Humor, essayistischen Einschüben und Gedankenspiralen, die zwischen Heimat, Herkunft und Fernweh mäandern. Im fast schon musikalisch anmutenden Aufbau setzt ein langes Präludium die vielfältigen, poetisch grundierten Motive, um sie ideenreich zu variieren. Das alles fließt und mündet in den wohlbekannten »Stadler-Ton«, den vertrauten Wendungen und Reflektionen, Kalendersprüchen gleich – und doch in stets neuen Spielarten arrangiert.
Am letzten Tag findet der Erzähler tatsächlich seinen ganz persönlichen Sehnsuchtsort. Auf der Veranda einer Lodge, mit Sicht auf den Kilimandscharo, aus genau demselben Blickwinkel, den einst der Maler Fritz Lang eingenommen hat. Der Berg muss nicht erklommen oder bezwungen werden. Es reicht der bloße Anblick. Das ist das Ende der Reise, einer langen Reise nach innen.
Titelangaben
Arnold Stadler: Am siebten Tag flog ich zurück. Meine Reise zum Kilimandscharo
Frankfurt am Main: Fischer 2020
239 Seiten. 23.- Euro
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