Kalt – sonst ohne Eigenschaften

Roman  | Robert Schindel: Der Kalte

Robert Schindel legt seinen zweiten druckfrischen Roman Der Kalte vor: ein Monumentalwerk zur Zeitgeschichte Österreichs der Jahre 1985 bis 1989, Jahre der Aufarbeitung der Shoa, aber auch ein Roman, in dem sich Opfer und Täter aufs Neue begegnen. Schindel setzt hier fast 30 Jahre später ein neues Denkmal am und für Heldenplatz – findet HUBERT HOLZMANN.

Hauptfigur in Robert Schindels Roman Der Kalte ist Edmund Fraul, ein jüdischer Spanienkämpfer, Kommunist und ehemaliger KZ-Häftling, der das Lager Auschwitz überlebt hat und mit seiner Frau Rosa, ebenfalls einer jüdischen Überlebenden, in Wien lebt. Seine grauenvollen Erinnerungen und Erlebnisse trägt er in seinem Inneren eingeschlossen. Sie haben ihn erkalten, versteinern lassen.

Unberührt nimmt er seine Umgebung wahr, die gesellschaftlichen Erschütterungen, die Herzattacke seiner Frau, den Erfolg und Absturz seines Sohnes, eines Wiener Burgschauspielers. Er selbst lässt Berührung nicht mehr zu. Lebt in seinen Ritualen – Caféhausbesuche, Spaziergänge in der Wiener Innenstadt, entlang der Donau, durch den Prater, besucht seine alte Mutter im Altenstift, fährt zum Zentralfriedhof. kehrt ins Wirtshaus ein, führt Gespräche.

Gegen das Schweigen

Robert Schindel definiert seine Hauptfigur, den 66-jährigen Edmund Fraul in zahlreichen Gesprächen, Interviewsituationen, in Dialogen, die manchmal zu Monologen werden. Sein Publikum begegnet einem Zeitzeugen, der Ausschwitz als Schreiber des Standortarztes überlebte. Zuhörer sind aber auch Journalisten, Zeitgeschichtler und – das ist das Spezielle – der Wilhelm Rosinger, der auch dem Ausschwitz-Inventar entstammt, allerdings auf Seiten der Führer- und Herrenrasse. »Als kleines Würstel« saß er nur eine kurze Zeit in einem Gefängnis ab.»Die Alliierten waren ihm nach Kriegsende mit einem kleinen, aber wirksamen Trick durch die Maschen gegangen, sodass er heraufleben konnte als Nachtwächter … bei der feinen Horch- und Guckgesellschaft«.

Edmund Fraul lässt die Zeit im Lager nicht los. Die Auseinandersetzung mit ihr, die Geschichten wieder und wieder erzählt und so erlebt, halten ihn am Leben. Schon sein erster Auftritt – beim Gehen – beinahe expressionistisch in Szene gesetzt: »Der Sturm wurde heftiger. Das Laub sauste und kreiselte, die Wolken rollten mit Tempo in den Westen, da und dort sausten Ziegel auf die Gehsteige… Auch Edmund Fraul, der eben über die Salztorbrücke ging, wurde der Hut vom Kopf gerissen.

Noch »hupfen« keine » Meere an Land«, keine » Eisenbahnen von den Brücken«, aber nach vier Jahrzehnten hat sich doch einiges bewegt: Fraul jagt nun nicht mehr nur Kriegsverbrecher, um sie vor Gericht zu bringen, er will die Geschichten der alten Nazis hören. Rosinger, nicht nur Schachpartner von Fraul, muss aus der alten Zeit, von NS-Verbrechen, Lager-Aufsehern, SS-Offizieren, erzählen. Wie in einem Schlüsselroman tauchen gespenstisch Dr. Mengele und andere SS-Schergen, die Gedanken »an den schmalen Weg, der zur Rampe führte«. Und immer wieder Schindels eigene Biografie. Die Geschichte seiner Eltern, seiner Familie: der »Weg durch die Schornsteine«.

Österreichs Vergessen in Gesellschaft und Politik

Die zahllosen Figuren im Roman erwecken die Zeit der 80er zum Leben: Liebesgeschichten, persönliche Tragödien. Auch die Zeit der Kampagne für den Präsidentschaftskandidaten Waldheim, die Zeit des Kanzlers Fred Sinowatz, der Aufstieg Jörg Haiders als Chef der FPÖ. Schlüsselroman aber auch wegen Thomas Bernhards Heldenplatz-Aufführung zum Bedenkjahr, dem Anschluss Österreichs 1938. Mit Claus Peymann, den Bildhauer Alfred Hrdlicka, Waldheims SA-Pferd, den Debatten um den Standort des Antifaschismusdenkmals, dem Skandal um die Heldenplatz-Aufführung in der Burg 1988.

20 Jahre nach seinem Romandebüt Gebürtig (1992) erscheint Schindels zweiter Roman Der Kalte. Darin auch die Figur des Lyrikers Paul Hirschfeld, »an dessen Buchveröffentlichung in Wien keiner mehr glaubte«. Und dieser Hirschfeld schreibt – eine »Novelle, die sich mehr und mehr zum Roman« auswächst. Das erste Urteil des Verlegers: »Der zweite Eindruck war stärker als der erste, der dritte stärker als der zweite. Das ist sehr gut«. Und das Spielt geht weiter. Vielleicht sogar autobiografisch? »Hirschfeld verabschiedete sich und ging leichten Schrittes zur Binnenalster … Es fiel ihm ein möglicher Titel seines Romans ein: Gefrorene Nähe.«

»Ameisengewimmel« als Bauprinzip

Der Kalte lebt von schnell geschnittenen Szenenfolgen, Überblendungen, Sprüngen, Querschnitten, Rückblenden. Robert Schindel agiert in seinem Roman als Regisseur, durchblättert ein Drehbuch, forciert das Tempo, schwenkt die Kamera. »Als ob«, »Na und«, »Dennoch« – so überschreibt er seine drei Teile. Das Programm: Wiener Schmäh? Jüdische Paranoia? Oder doch ein Leben nach Ausschwitz? Robert Schindel jedenfalls versammelt die gesamte Schickeria aus Kultur und Politik der Stadt. Intendanten, Regisseure, Burgschauspieler, Opernsänger, Impresario, Künstler, Blattmacher und Journalisten aus Boulevard oder Wochenzeitung und die Facetten des Politikerpacks.

Caféhausszenen, im Hawelka, Landtmann, Mozart und vielen weiteren Wiener Adressen, Operndiven, Burgschauspieler – eine Szenerie, die wir von Arthur Schnitzler kennen. Auch bei ihm gibt es Traumsequenzen, Tagebucheinträge, Geständnisse, Dialoge, gibt es die Spaziergänger, Flaneure, Getriebenen. Und die süßen Madl? Die verkehren sich bei Robert Schindel in Typen des Terrors, Gestalten des Schreckens.

Eine moderne Wiener Seifenoper, menschliche Tragikomödie, eine moderne Pratertour des Grauens. Einblendungen in die Tiefen des Abgrunds. Menschliche Tragödien des Heute, Künstlerdepressionen, Liebeskummer, Suizid. Und die Tragödie der Shoa. Der Weg durch die Schornsteine. Die Zeitläufte nicht als Zeitleiste, sondern als immerwährende Gleichzeitigkeit, Unabänderlichkeit. Beinahe als Dramolett. Das Leben dreht sich um sich selbst und kommt doch immer wieder am selben Punkt an.

Die Träume Edmund Frauls sind aufschlussreich: Seine Frau Rosa erwacht nachts von seinen Schreien. Er selbst sieht sich immer wieder hinter dem Standortarzt Wirths an der Rampe von Birkenau stehen und erlebt die Selektion. Immer wieder in der Rolle des Zeugen. Und auch aus der anderen Position: »Der letzte Traum hing Fraul noch tagelang vor den Augen. Er begann sich vor dem Gedanken, was er als SS-Mann in Auschwitz getan hätte, zu fürchten.«

Das Nacktmodel Elke Sommer

Merkwürdig in Schindels Roman ist die Erlanger Episode, als die Schauspielerin Astrid von Gehlen zur Schwester nach Franken flieht: Der Weg nach Marloffstein, ein Kalauer? Der Trip nach Venedig mag da ja einleuchten. Aber warum gerade die vergessene, leicht gealterte Elke Sommer in der Tongrube? – Noch heute in Erlangens Umgebung ein Geheimtipp. Die heile deutsche Welt! Und daneben – Fraul und Rosinger, wieder im Sturm, mit »Auschwitzgeschichten«. Aber dennoch: Heile Welt in Erlangen? Nur scheinbar jedenfalls. Wurde in dieser fränkischen Stadt im Jahr 1980 doch der Verleger und Rabbiner Shlomo Lewin mit Lebensgefährtin von einem Mitglied der Wehrsportgruppe Hoffmann ermordet. Eine Einzeltat… so die öffentliche und justiziable Meinung.

In Deutschland wäre solch ein Buch dringend nötig. Grass‘ Erinnerungen sind da nur eine eher persönliche Rückschau. Auch hier gab es bis vor kurzem noch die Lagerkommandanten, Lagerärzte, Schlächter, Schädelknacker. Nach 45 untergetaucht. Reingewaschen. Persilscheine. Frauls Aufstöbern wirkt da bedrohlich, verstört, zwingt zur Flucht. Und der Wiener Nazi und SS-Scherge Anton Egger, auch Schädelknacker genannt, findet – kurz vor seiner geplanten Flucht nach Südamerika –ein verdientes Ende auf einer Bergtour. »Beim Fallen machte er eine Linksdrehung, sodass er oberhalb der Schulter wuchtig mit dem Schädel auf eine nach oben sich verjüngende Felsnase schlug.«

»Wir müssen alle unseren Weg gehen« – lautet das Schlusswort von Edmund Fraul im Roman. Der Kreis zum Romanvorspruch schließt sich. Robert Schindel wählt nicht zufällig ein Zitat aus dem Galeerentagebuch von Imre Kertész: »Wozu ihn töten? Er geht auch von selbst zugrunde.« Robert Schindels Der Kalte ist mehr als ein Erinnerungsbuch, mehr als eine Pflichtlektüre –ein modernes Epos von Engagement und Gedenken. Respekt.

| HUBERT HOLZMANN

Titelangaben
Robert Schindel: Der Kalte
Berlin: Suhrkamp 2013
663 Seiten. 24,95 Euro
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