Ausgerechnet an einem Schauplatz vergangener literarischer Größen spielt Heinz Strunks aktueller Abgesang auf die bürgerliche Welt. Ein Sommer in Niendorf könnte sich romantisch, bedeutungsschwer und vielversprechend anfühlen. Doch der Kosmos dieses novellenartigen Romans hält eine Vielzahl an unberechenbaren Faktoren parat: Alkoholismus, emotionale Schwäche, sozialer Abstieg. Das konsumiert man als Leser mit angehaltenem Atem, doch nicht ohne unterschwelliges Staunen. Von INGEBORG JAISER
Wer Heinz Strunk einmal live erlebt hat – diesen lispelnden, spröckelnden Tausendsassa mit schlecht verheilter, juveniler Aktentaschenakne und immer etwas disparater Ausstrahlung – wird sich angesichts seiner literarischen Leistungen verwundert die Augen reiben. Neben zahlreichen Hörspielen, Podcasts und Kolumnen sind dem als Mathias Halfpape geborenen Schriftsteller und Musiker auch noch (im wahrsten Wortsinn) ausgezeichnete Romane gelungen.
Schon sein schrilles Debüt ›Fleisch ist mein Gemüse‹ (2004) avancierte zum Überraschungserfolg. ›Es ist immer so schön mit Dir‹ (2021) stand auf der Longlist zum Deutschen Buchpreis, für ›Der goldene Handschuh‹(2016) wurde Strunk mit dem bedeutenden Wilhelm-Raabe-Literaturpreis ausgezeichnet. Hat sein neuester Coup gar das Zeug zum angesagten (Anti-)Sommerroman 2022?
Tagungsort der Gruppe 47
Die Story von Ein Sommer in Niendorf beginnt recht vielversprechend. Der geschiedene Anwalt Dr. Roth will eine dreimonatige Auszeit nutzen, um eine Familienchronik zu verfassen. Dabei denkt der erfolgsverwöhnte Jurist durchaus an Großes: »Buch, Hörbuch, E-Book, Podcast, vielleicht findet sich sogar jemand, der den Stoff verfilmt. Netflix oder Amazon Prime oder RTL+ oder Disney+; ein Mehrteiler im Öffentlich-Rechtlichen zur besten Sendezeit. So was.« Im noblen Business-Outfit, mit einem Rimowa Cabin Twist und einer antiquierten Revox B 77 checkt er Anfang Juni in seinem 1,5-Zimmer-Apartment an der Ostsee ein.
Nicht ganz seine Kragenweite, aber etwas Besseres war nicht mehr zu haben. In Niendorf, der kleinen, etwas abgetakelten Schwester vom Timmendorfer Strand, umgeben von »fahrradbehelmten Rentnern« und drittklassiger Gastronomie. Aber einst auch Schauplatz eines richtungsweisenden literarischen Events. Denn hier tagte 1952 die legendäre Gruppe 47, darunter Ilse Aichinger, Ingeborg Bachmann, Paul Celan und Heinrich Böll. Wenn das kein Fingerzeig sein sollte …
Verwobener Webfehler
Doch rasch stagnieren Roths verhaltene Schreibversuche – oder kommen gar nicht erst in Fahrt. Schuld daran sind vor allem der übergriffige Wohnungsverwalter, Strandkorbverleiher, Spirituosenhändler und Alkoholiker Breda (»krummer, langer Lulatsch mit Plauze, strohiges Haar, pergamenthäutig, dünne Ärmchen und Beinchen«) und dessen mehr als übergewichtige, mit frontalem Charme ausgestattete Freundin Simone (»Die Frau hat etwa die Größe eines Hydranten, breit wie groß wie lang wie tief«).
Zudem drängt wie im Blitzlichtgewitter eher unerwünschtes Personal aus Roths früherem Leben auf die Bühne: seine bigotte Ex-Ehefrau Stefanie, die nichtsnutzige Tochter Fiona (»Irgendetwas ist schiefgelaufen; beim Genroulette die Null erwischt, unbekannter Defekt, seltene Störung, verwobener Webfehler«), ein längst vergessener One-Night-Stand. Kein Wunder, dass die für´s Schreiben notwendige Kontemplation, das begierig herbeigesehnte »Eingrooven« gar nicht erst aufkommen will.
Sabberquartal
So nimmt der etwas distinguierte, lebensfremde Roth dankbar jedes Alibi an, um dem Schreibtisch fernzubleiben. Regelmäßige Besuche in Bredas Likördepot gehören bald schon zum Pflichtprogramm. Wenn die Not groß ist, muss selbst eine eingelegte Williams-Christ-Birne herhalten. Und man ahnt es: Niendorf – »ein posthumer Ort, wie das Ausatmen in der Zeit zwischen den Geschehnissen« – mit einem bedeutungsschweren, literarischen Erbe gesegnet, gerät weniger zum inspirierenden Genius Loci als zum Schauplatz eines rasanten sozialen Abstiegs. Da mutiert das hochtrabend geplante dreimonatige Sabbatical ganz schnell zum schäbigen »Sabberquartal«.
Heinz Strunk kleidet diesen ärmlichen Abgesang in drastische Worte und unfassbar degoutierende Szenen, erbarmungslos und ohne jegliches Mitleid, jedoch stets mit einem dissonanten Unterton. Da liegen Ehrgeiz und Erbrechen, Komik und Klaustrophobie, Überraschung und Übelkeit in verdächtiger Nachbarschaft. Oder, aus Roths Sicht: »Seine Welt zerfällt, im Inneren wie im Äußeren, eine Stahlkugel, deren Schweißnähte sich auflösen. Ihn faszinierte die Vision seines bevorstehenden Untergangs.«
Als Leser klebt man an diesen Untergangsvisionen wie an einem düsteren Film: fasziniert, doch auch reichlich verstört. Zugleich treibt ein unterschwelliger Ekel die Lektüre voran. Das aktuelle Strunk’sche Elaborat könnte zum Sommerroman werden, später. Und falls der Autor uns in Zukunft, in rascher werdenden Abständen, mit weiteren literarischen Schockern versorgen sollte, wären wir bestimmt gewappnet, zu allen Jahreszeiten.
Titelangaben
Heinz Strunk: Ein Sommer in Niendorf
Hamburg: Rowohlt 2022
238 Seiten, 22 Euro
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