»Das Instrument des Überwindens der Scham ist das Schreiben«, bekannte die Schriftstellerin Julia Franck kürzlich in einem Interview über ihr neues Buch, das vom Verlag bewusst nicht als Roman etikettiert wurde und eher als auto-fiktionales Erinnerungsbuch daher kommt. Von PETER MOHR
Für Die Mittagsfrau (2007), in mehr als 30 Sprachen übersetzt und mit mehr als eine Millionen verkaufter Exemplare ein wahrer Bestseller, war die inzwischen 51-jährige Autorin mit dem Deutschen Buchpreis ausgezeichnet worden. 2011 hatte sie ihr letztes Werk Rücken an Rücken veröffentlicht.
»Ich glaube, dass dieses Buch nicht diese zehn Jahre brauchte, aber es brauchte mein Älterwerden«, meinte Julia Franck über ihr neues, wieder stark autobiografisches Erzählwerk Welten auseinander.
Es ist diesmal vielmehr »Ich« im neuen Buch – die eigenen Gefühle, die psychischen Verletzungen und die Scham über die familiären Verhältnisse werden von Julia Franck versucht, aus der Erinnerung zu rekonstruieren. Ohne Anspruch auf faktische Authentizität, sondern retrospektiv, analysierend, in die Tiefe gehend – mit dem Abstand von mindestens drei Jahrzehnten.
Als inhaltliche Klammer fungiert eine unglückliche Liebesgeschichte zwischen der Ich-Erzählerin und ihrem Mitschüler Stephan, mit dem sie im Abiturjahr in Berlin nicht nur die Schulbank teilte. Sein Unfalltod markiert eine harte Zäsur im Leben der jungen Frau, das von vielen Verlusten geprägt ist.
Ihren Vater, einen introvertierten Filmemacher, lernte sie erst als Teenager kennen, kurz vor dessen Krebstod, die Mutter, eine mittelmäßig erfolgreiche Schauspielerin, war in ihrer Rolle als Alleinerziehende hoffnungslos überfordert und flüchtete in eine Art alternativ-ökologische Emigration. Ihre Großmutter, die überaus erfolgreiche Bildhauerin Ingeborg Hunzinger, hatte mit Familie überhaupt nichts im Sinn und investierte alle Energie in ihre eigene künstlerische Karriere.
Umso härter traf sie der Tod des geliebten Stephan, der aus gut bürgerlichen Verhältnissen stammte und mit dem sie eine komplizierte Phase der Aneinandergewöhnung durch gemacht hatte: »Unsere Erfahrungen lagen Welten auseinander, wie konnte es da zu einer Sprache kommen, in der wir mit denselben Worten auch nur annähernd etwas Ähnliches hätten meinen und uns vorstellen, sagen und verstehen können.«
Über allem thront für Julia Franck die Frage: Wie konnte sie nach ihrer beschwerlichen Kindheit und Jugend Schriftstellerin werden? Oder war ihre hürdenreiche Vita gar der Impuls, um den Weg zur Literatur einzuschlagen?
Die biografische Achterbahnfahrt begann Ende der 1970er Jahre, als ihre Mutter mit ihren vier Töchtern aus der DDR ausreist, zunächst (diese Passagen kennen wir bereits aus dem 2003 erschienenen Roman Lagerfeuer) in einem Notaufnahmelager landet und schließlich in der schleswig-holsteinischen Provinz im Umfeld der Kreisstadt Rendsburg strandet. Die Ich-Erzählerin fühlt sich unwohl, ist sowohl im Dorf als auch in der Waldorfschule eine einsame Außenseiterin – eben die Tochter einer Sozialhilfeempfängerin. »Nomadenkindheit« nennt Julia Franck dieses diffuse Gefühl der emotionalen wie geografischen Heimatlosigkeit. Mit gerade einmal 13 Jahren kehrt sie dem Landleben in Norddeutschland den Rücken und geht zu alten Freunden zurück nach Berlin.
Der schwierige Spagat zwischen den emotionalen Befindlichkeiten des pubertierenden Mädchens und des Blicks der heute über 50-jährigen Autorin ist Julia Franck hervorragend gelungen. So entstand ein hoch komplexes erzählerisches Wechselspiel zwischen intimer Nähe und kommentierender Distanz.
Welten auseinander ist ein schonungslos offenes Buch über schmerzliche Verluste, über eine tief gehende Identitätssuche, über unterdrückte Scham, aber auch über ein großes Ausdauer- und Leidenspotenzial, das die Hauptfigur in sich trägt. Viel Schmerz, aber auch jede Menge Energie steckt zwischen den Buchdeckeln.
Titelangaben
Julia Franck: Welten auseinander
Frankfurt/M.: S. Fischer Verlag 2021
368 Seiten. 23 Euro
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