Julia Franck ist die diesjährige Gewinnerin des Deutschen Buchpreises. Wie schon in ihrem vorzüglichen Roman ›Lagerfeuer‹ (2003), in dem Sie die Schicksale von innerdeutschen Übersiedlern im Berliner Notaufnahmelager Marienfelde zusammenführte, geht es auch nun wieder um Flucht und die Ungewissheiten, die jeder Neuanfang in sich birgt. Von PETER MOHR
Im erzählerischen Prolog des neuen Romans ›Die Mittagsfrau‹ befindet sich die Krankenschwester Helene am Ende des Zweiten Weltkriegs mit ihrem Sohn Peter auf der Flucht von Stettin in Richtung Westen. Auf einem Provinzbahnhof lässt die Protagonistin ihren siebenjährigen Sohn im Menschengetümmel allein zurück. Ein Schicksal, das auch Julia Francks Vater widerfahren ist.
Peu à peu erhalten wir durch den erzählerisch rekonstruierten Lebenslauf Anhaltspunkte für Helenes ungewöhnliches, auf den ersten Blick verachtenswertes Verhalten. Sie wuchs am Ende des Ersten Weltkriegs in der Lausitz auf, der Vater (ein angesehener Druckereibesitzer) kehrt als Krüppel nur zum Sterben heim, die Mutter (jüdischer Herkunft) hat sich nach vier Totgeburten von der Familie zurückgezogen und lebt in einer wahnhaften Selbstisolation in der Dachkammer des Hauses.
»Mutter ist am Herzen erblindet«, hört Helene von ihrer älteren Schwester Martha, die ihr wichtigster Bezugspunkt wird. Zunächst führt die hochbegabte Helene als Kind die Geschäfte der elterlichen Druckerei weiter, dann geht sie mit ihrer lesbischen Schwester zu einer Tante nach Berlin.
Die Metropole hat Julia Franck als glitzernden Kontrast zur provinziellen Lausitz ausgemalt – mit koksender Tante, intellektuellen Salons und ausschweifendem Nachtleben. Im bunten Trubel Berlins muss Helene den ersten großen seelischen Rückschlag wegstecken. Ihr Freund Carl, ein äußerst belesener Philosophiestudent, verunglückt tödlich kurz vor der geplanten Verlobung.
Die spätere Ehe mit dem von Hitlers Ideologie begeisterten Straßenbauingenieur Wilhelm wird zur Hölle. Der Ehemann schikaniert und erniedrigt seine Frau, die dann allein mit Sohn Peter in Stettin zurückbleibt. Statt des erhofften Medizinstudiums steht für sie die körperlich wie seelisch harte Arbeit als Krankenschwester auf der Tagesordnung, statt Vergnügungen in Berlin die Verantwortung für ihren Sohn.
Kein Satz zuviel
Die Erzählweise der 37-jährigen Julia Franck ist absolut atypisch für ihre Generation. Sie präsentiert uns einen Roman, in dem deutsche Geschichte anhand eines Einzelschicksals erfahrbar wird und keine selbstverliebte Nabelschau. Nicht nur thematisch, sondern auch wegen des leicht ausufernden Duktus‘ fühlt man sich in vielen Passagen an Günter Grass erinnert. Und doch möchte man auf keinen Satz verzichten.
Die selbst schutzsuchende Helene war offensichtlich mit der Mutterrolle und der damit verbundenen Beschützerfunktion überfordert. Die Liebe ihres Kindes vermochte die Protagonistin, die in den letzten Kriegswirren mehrmals vergewaltigt wurde, nicht zu erwidern. Offenkundig war sie – wie ihre Mutter – durch den Lauf der Zeit »am Herzen erblindet«.
So fiel Helene (symbolisch) in die Rolle der »Mittagsfrau«, die nach einer sorbischen Legende den Feldarbeitern zur Mitte des Tages erschien und sie entweder für ihre Arbeiten belohnte oder bestrafte, mithin eine Frau mit zwei Gesichtern war. Als Krankenschwester versorgte Helene am Ende des Krieges unzählige Verletzte; das »zweite Gesicht«, jenes der kalten, unnahbaren Mutter bekam ihr Sohn Peter in unerbittlicher Härte zu spüren.
Mit ausgeprägtem Feingefühl zeichnet Julia Franck, die für den Deutschen Bücherpreis nominiert wurde, ihr breit gefächertes Personenensemble. Von der Protagonistin, die sich im tiefsten Innern um all ihre Lebenschancen beraubt sieht, über die von Helene angebetete Schwester Martha, bis hin zur abgeschottet lebenden und zur Tyrannei neigenden Mutter, der mit ihrem lasterhaften Lebenswandel kokettierenden Tante und Helenes autoritärem Ehemann – all diese unterschiedlichen Charaktere wirken absolut stimmig.
Mit der ›Mittagsfrau‹ hat Julia Franck eindrücklich unter Beweis gestellt, dass sie die begabteste und reifste Autorin aus der Generation »Fräuleinwunder« ist.
Titelangaben
Julia Franck: Die Mittagsfrau
S. Fischer Verlag 2007
430 Seiten, 19,90 Euro
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