Frühe Hellsicht im politischen Gegenwind

Roman | Jean Améry: ›Die Schiffbrüchigen‹

Jean Améry (1912/78), der als Hans Mayer in Wien geboren wurde und unter seinem nom de guerre zu einem der bedeutendsten Essayisten und Publizisten in den Sechziger und Siebziger Jahren in Deutschland wurde, hat als 23jähriger den Roman ›Die Schiffbrüchigen‹ geschrieben, der jetzt erst postum veröffentlicht wurde. Von WOLFRAM SCHÜTTE

Die Schiffbruechigen - 9783608936636Als die Herausgeberin der neunbändigen Werkausgabe, Irene Heidelberger-Leonard, ankündigte, das Opus primum Jean Amérys, den unpublizierten Roman »Die Schiffbrüchigen«, seinem Oeuvre nachträglich einzugliedern, war ich höchst skeptisch. Juvenilia: so what?

Erst 1950 hatte Améry das verloren geglaubte Manuskript des Romans eines dreiundzwanzigjährigen Wieners namens Hans Mayer, der er einmal war, bevor er unfreiwillig, exiliert, bestialisch gefoltert und als Auschwitz-Überlebender 1945 von Belgien aus seinen Beruf als Schriftsteller unter dem Namen Jean Améry ausübte, wieder in Händen gehalten. Améry war Anfangs der Fünfziger Jahre ein »Nobody«, erschrieb sich gerade seinen späterhin ebenso glanzvollen wie ethisch-politisch untadeligen Namen als Essayist und politischer Publizist mit kulturellen »Brotarbeiten« bei der ›Weltwoche‹ und anderen Schweizer Zeitungen, bevor ihn 1964 Helmut Heißenbüttel und 1965 Hans Paeschke vom ›Merkur‹ gewannen, in der Bundesrepublik zu publizieren.

Für einen Augenblick erhoffte sich 1950 Jean Améry mit seinem 1935 geschriebenen Erstling ein spätes, nachgeholtes Debüt als Romancier – ein innigster Herzens-Wunsch des Thomas-Mann-Verehrers, den der anerkannte & hochgeschätzte Essayist Améry danach mit seinen erzählerischen Versuchen des ›Lefeu‹ (1974) und des ›Charles Bovary‹ (1978) für ihn vergeblich & erfolglos zu realisieren trachtete. Noch bevor seine polemische Identifikation mit Emmas unglücklichem Ehemann, wider Flaubert & den verehrten Sartre ins Erzähl-Feld geführt, aber erschienen war, »legte« er, wie er in einem großen gleichnamigen Essay (1976) exemplifiziert hatte, 1978 in Salzburg »Hand an sich«. Der Gedanke an den »Selbstmord« war ihm von frühauf vertraut, wie zuletzt nun sein Romandebüt beweist, in dem er mehrfach angesprochen wird.

«Die Schiffbrüchigen« konnten jedoch sowenig 1935 unter Schuschniggs Austrofaschismus erscheinen, wie 1950 in Österreich oder der Bundesrepublik Deutschland. Der Autor war damals und danach zu »links« (ohne je »Marxist« oder KP-Anhänger gewesen zu sein!); 1935 kam der »alarmistische« Roman »zu früh« und 1950 war er »zu spät« – mit seinen zeitaffinen Erkenntnissen über die schon 1934/35 in Österreich erkennbare europäische Entwicklung zum Krieg & zur Vernichtung der Juden. Zwei Jahrzehnte später, als er sich einen geachteten Namen gemacht hatte, überließ Améry sein Jugendwerk, das Dank eines Zufalls in Wien überdauert hatte, seinem Schicksal.

Historisches Dokument einer Geistesgegenwärtigkeit

Sehr gut ist es aber, dass das in vielerlei Hinsicht erstaunliche Buch nun nicht noch bloß als Teil der Werkausgabe, sondern auch separat das Licht einer Öffentlichkeit erblickt, die – besäße sie noch sowohl Neugier als auch Interesse, »tief in den Brunnen der Vergangenheit« (Thomas Mann) zu schauen – ein außerordentliches & -gewöhnliches, hellsichtiges literarisches Zeugnis einer (auch selbstkritischen) Geistesgegenwärtigkeit entdecken würde, das ihr in dem glücklicherweise ausgegrabenen Fundstück eines »kleinen Geniestreichs« (Améry) nun als historisches Dokument vor Augen kommt.

Améry hat in einem Interview kurz vor seinem Tod berichtet, dass er tollkühn das Manuskript an Thomas Mann geschickt, dieser ihn an Robert Musil verwiesen, und sein österreichischer Landsmann dem Roman (oder doch dem Autor?) nachgesagt habe, dass er »recht begabt sei, wenn auch noch gewisse Unreifen zeige«. Das Übliche also, verständlicherweise; nichtssagend ermutigend: das Standard-Lob nach Nicht-Lektüre der beiden »Großschriftsteller«, die sich mit dieser zudringlichen »Tagesfliege« nicht beschäftigt haben.

Denn hätte Musil das Manuskript wirklich gelesen, wäre ihm sowohl die Devotion des Debütanten für den ehrfürchtig zitierten, von Musil aber gehassten Thomas Mann, als auch die ausdrückliche Erwähnung von Herman Brochs »Schlafwandlern« aufs Heftigste und Folgenreichste aufgestoßen. Kurzum: diese scheinbaren Empfehlungen sind nichts wert: abwimmelnde Lippenbekenntnisse.
Dergleichen »Entrèebilletts« brauchen ›Die Schiffbrüchigen‹ auch gar nicht, um als historisches Zeitdokument nachträglich ebenso gespannte Aufmerksamkeit zu erregen, wie als literarisches Debüt eines entflammten Intellektuellen, dem die eigene Existenz in der mörderischen Zeit auf den Nägeln brennt, noch heute mit Ver- & Bewunderung & menschlicher Bewegung gelesen zu werden.

Denn ›Die Schiffbrüchigen‹ sind ein bizarr-expressiver literarischer Wurf, ja: der vulkanische »Auswurf« eines zwischen Hitze & Kälte, Leib & Seele, »tierischem Körper« und »analysierendem Verstand«, zwischen Freudscher Psychoanalyse, logischem Positivismus und Mauthnerscher Sprachskepsis schwankenden geistig-literarischen Gärens, das sich »neusachlich« noch nicht beruhigt hat. Ein österreichisches Zeit- & Sittenbild zwischen April 1933 und Mai 1934, als der sozialdemokratische Aufstand gegen den austrofaschistischen Ständestaat blutig niedergeschlagen worden war; ein Erzähl- und Gedankenpanorama, das vor allem auch den »Schiffbruch« jüdisch-assimilierter Intellektueller und Künstler in den sezierenden Blick rückt.

Autobiographisches Unterfutter

Ohne Zweifel ist der Stoff, aus dem der dreiundzwanzigjährige Hans Mayer sein »Sittenbild« der maroden Zeit sich da zurechtgeschnitten & -geflickt hat, stark autobiographisch unterfüttert und von der eigenen Lebens-, Liebens- & Geistesgeschichte schillernd eingefärbt. Seiner Hauptfigur hat er die Gleichaltrigkeit und die eigene Biographie einbeschrieben, sodass der Roman auch eine autobiographische Reflexion über die eigene existenzielle Situation in der Zeit der kollektivistischen Extreme und der nationalsozialistischen Barbarei ist.
Eugen Althager, Sohn eines früh gestorbenen jüdischen Vaters, auf dem Land und im Katholizismus aufgewachsen, nachdem die Mutter durch Gutmütigkeit und Unwissenheit das Erbe durchgebracht hat und gestorben ist, lebt arbeits- & mittellos als entlassener Buchhändler, nach einem kurzzeitigen Aufenthalt als Jazzpianist im verabscheuten Berlin, in einem armen Wohnbezirk Wiens, finanziell von kleinen Unterstützungen eines Pariser Onkels, vor allem aber von seiner langjährigen Geliebten, Agathe, einer kommunistischen Kontoristin, über Wasser gehalten.
Was diesen »arbeitslosen Vagabunden«, der »eine gewisse Romantik der Haltlosigkeit« pflegt, »als wäre allein die Tatsache, verworfen zu sein, schon ein gesicherter Lebensunterhalt«, von allen anderen Arbeits- & Obdachlosen, Herumhängern & -treibern unterscheidet, die er auf der Straße sieht und in den Cafes trifft, in denen dieser grüblerische Bohemien verkehrt, ist zum einen seine »halbjüdische« Herkunft, die ihn zum Paria macht, zum anderen aber seine umfassende Kenntnis der österreichischen & deutschen Gegenwartsliteratur, die er von Hofmannsthal, Trakl und Schnitzler bis zu Thomas Mann, Gottfried Benn & Hermann Broch in sich aufgesogen hat. Auch Julien Greens »Leviathan« hat er gelesen, wie er erwähnt.

Vor allem aber ist Althager philosophisch hoch gebildet & durch die Schule des empirischen Positivismus´ des »Wiener Kreises« gegangen, dessen radikale Aufklärung alle neoromantischen Faxen, Metaphysiken, Glaubenssätze und Lebensinn-Stützen in Althagers Denken weggeräumt hatte – zugunsten eines »heroischen Nihilismus«, der »sich zwangsläufig und mit maschinenhafter Präzision ergeben hatte aus den analysierenden Methoden des voraussetzungslosen und rein empirischen Rationalismus«.

Das Zerstörungswerk der radikalen Gedanken

Eugen Althagers einziger Jugendfreund Heinrich Hessl, gleich ihm vom Land in die Stadt gewechselt und ebenfalls aus assimiliertem jüdischem Haus stammend, durchlebt mit dem geistig dominanten Althager »das Zerstörungswerk ihrer Gedanken« in einem »kalten und schmerzhaften Rausch«. Hessl, der bei seinen vermögenden Eltern lebt, sucht aber zielbewusster und »bürgerlicher« als der elternlose, bürgerlich depravierte Hungerleider, den er immer wieder finanziell unterstützt, seinen beruflichen Weg. Hessl studiert, macht seinen Doktor und obwohl innerlich glaubenslos, findet er als verkappter Zyniker »Unterschlupf« bei einer katholischen Verlagsanstalt im klerikalfaschistischen Österreich und hohes Ansehen, weil er sich als orthodoxer Hardliner geriert, der einen linkskatholischen Wortführer mit allen geistigen Waffen seiner mit Althager geschmiedeten Intelligenz niedermacht.

Erscheint Hessl auch als opportunistischer »Verräter« an der radikalen (Selbst-) Aufklärung, die beide in ihren Gesprächen betreiben, so bleibt er doch geistiger Freund und existenzieller Notanker für den (gewissermaßen mit Notwendigkeit) sozial, emotional und moralisch absteigenden Eugen Althager. Hessl, mit seinen Kontakten und Verbindungen zu staatlichen Stellen, wird zuletzt das Duell vertuschen, auf das sich Althager absurderweise eingelassen hatte und an dessen tödlichen Verletzungen der Freund, der ihn zum Sekundanten bestimmt hatte, gestorben ist.

Der Verfall des 23jährigen Eugen Althager hat mehrer Gründe. Gleich zu Beginn des Romans provoziert das Erlebnis einer Hetzjagd von Nazis auf einen Juden in ihm das Wissen, dass auch »ihn die Zeit mit allen anderen seiner Rasse verfemt hatte. Seine Schuld war es wohl, dass er nicht wusste, worin seine Zugehörigkeit zu dieser Rasse bestand«- wo der katholisch erzogene »Naturbursche« sich doch gerade von jeglicher kollektivistischen Irrationalität, die in der reaktionären Literatur und Philosophie beschworen wurde, emanzipiert und intellektuellen Anschluss gefunden hatte an die fortgeschrittensten geistigen und künstlerischsten Bewegungen seiner Zeit in der Metropole. Aus diesem geistig erkämpften Zuhause »im Reich des reinen Geistes« wird er als Nichtarier vertrieben.

Der stolze empirische Rationalismus und die mitleidlose, jederzeitige analytische Selbstbeobachtung schufen ihm zwar Freiheit und geistige Überlegenheit; aber sie führten ihn auch in eine ohnmächtige individuelle Isolation. Dabei wusste der solitär lesende und denkende, ärmliche Bohemien in seinem Zimmer noch nicht einmal etwas von den »härteren und furchtbar brutalen Formen des Lebenskampfs in den unsagbaren Höllen der Obdachlosenheime« oder den »grauenfeuchten Korridoren der Zinshäuser«. Aber auch in der liberalen österreichischen Presse, die zwar über »die geschändete Kultur« in Hitler-Deutschland »in einem unsagbar peinlichen Geschwätz großsprecherisch« schrieb, jedoch dabei »nicht vergaß, Schutz bei denen zu suchen, die ihre Feinde waren, aber sie aus Trägheit vorläufig noch gewähren ließen«, war »für ihn als Kämpfer kein Platz (…) Er musste zusehen, wie die Narren blöden Blicks ins Verderben rannten, musste sich haltlos von ihnen mitziehen lassen«.

Der Phänotyp der Jungen Frau von 1930

So detailliert, elaboriert und kontrovers der junge Schriftsteller die geistige Physiognomie Althagers & Hessls und deren Entwicklung und Einwirkung auf seine prekären Helden und deren Verhalten zu beschreiben und zu analysieren versucht, ohne doch schon dafür eine adäquate Sprache gefunden zu haben, so wird Hans Mayer doch erst zum Romancier, wenn er sich auf das Gebiet der Emotionen begibt und sich dem erotischen Kraftfeld seiner »Schiffbrüchigen« zuwendet. Denn der »kalte Rationalist« Althager ist ein glühender und hitziger Liebhaber, der in der sinnlichen Lust ein physisches Glück findet, das ihm seine intellektuellen Ausschweifungen verwehren. (George Steiners kürzlich essayistisch geäußerte Behauptung »Warum Denken traurig macht«, fände hier einen erzählerischen Beleg).
Wenn der Roman mit Eugens Erwachen an einem kalten Aprilmorgen 1933 in seinem klammen Zimmer beginnt, ist der Arbeitslose schon drei Jahre mit der Kontoristin Agathe zusammen. Sie lebt bei ihrem Vater und ihrer flatterhaften Schwester Hilde, die ihre reichen Liebhaber wechselt, wie ihre Unterwäsche. Agathe aber liebt und bewundert in dem geistig anregenden Eugen ihren ersten Mann, dem sie sogar die Miete für sein Zimmer bezahlt. Obwohl er das als »außerordentlich entwürdigend« empfindet, hindert ihn seine Liebe zu dem aufgeweckten Geschöpf, das er nach seinem Bilde formen kann, aber daran, sich als ihren Zuhälter zu sehen. »Eugen wusste, dass er Agathe liebte. Aber das Wissen war stark verstandesmäßig, kalt und formal, da sich im Laufe des schweren Lebens, das die beiden seit drei Jahren führten, in jüngerer Zeit nur mehr selten die Möglichkeiten geboten hatte, die Existenz dieser Liebe als einer lebendigen Leidenschaft zu bestätigen«. Jetzt aber bietet sich diese Möglichkeit.

Als Agathe schwanger wird und sie für eine illegale Abtreibung 500 Schilling braucht, versagt Eugen jedoch, der von einem gemeinsamen Selbstmord schwafelt. Hessl, den Agathe (und nicht Eugen) um finanzielle Hilfe angeht, lehnt ihre drängende Bitte ab. Ihre Schwester Hilde führt sie aber einem ihrer ehemaligen Liebhaber zu, einem wohlsituierten kultivierten Ingenieur, von dem Hilde weiß, dass er ein verlangendes Auge auf Agathe geworfen hatte. Er würde sich einen Beischlaf mit Agathe leichthin für diesen Betrag erkaufen.

Verrat des Geistes am Körper

Als die verzweifelte Agathe ihrem apathischen Liebhaber Eugen von der Möglichkeit dieser prostituierenden Notlösung berichtet, willigt er emotionslos ein – und um seine erotische Amoralität zu unterstreichen, schaltet der Erzähler eine Rückblende ein, aus der hervorgeht, dass Eugen auch schon einmal, als Agathe krank war und Hilde ihm davon berichtet hatte, Agathe mit der von ihm verachteten Schwester betrogen hatte.

So wird nun Agathe, erst widerstrebend, dann sexuell erweckt die Geliebte des sie verwöhnenden älteren Mannes, während Eugen in einem nobel, aber selbstmitleidigen Abschiedsbrief noch darüber grübelt, ob er, statt Agathe zu »lehren, den Mächten der Illusion so tödlich zu Leibe zu rücken«, doch besser ihr gegenüber »die Ideologie von der ewigen Liebesgewalt« aufrechterhalten hätte. »So wird mir nun auch das Verlieren meiner Geliebten wieder zur Erkenntnis vom tödlichen Weg allen Verstandes, der aus der barbarischen, blutheißen und vulkanischen Wirrnis uns hineinrettet in die eisklare Region seiner kraftlosen und tatfremden Analyse, in der wir umso sicherer zugrunde gehen müssen«.

In Agathe und ihrer erotischen éducation sentimentale aber haben »Die Schiffbrüchigen« ihr zweites erzählerisches Zentrum. Agathes Lebens- & Liebesgeschichte sind allein vier der 12 Kapitel des Romans gewidmet; und ihr Verlust wird für Eugen der Anfang von seinem traurigen Ende, die Initialzündung seines sozialen und emotionalen Abstiegs sein.

Obwohl der antimetaphysische Rationalist Hans Mayer seine frühen Ausflüge in den Irrationalismus überwunden zu haben meinte, spukt jedoch in seinem Frauenbild, das er nicht nur in Agathe, sondern auch in anderen Frauen, die Eugens Weg kreuzen und ihn zeitweilig begleiten, einfühlsam zu entfalten versteht, noch der Erotismus Weiningers und Klages nach – und (das soll nicht verschwiegen werden) auch die spätpubertäre, egozentrische Erotik eines dreiundzwanzigjährigen Autors, der zugleich von »der Rettung der Gefallenen« träumt und der männlichen Verachtung des »ungeistigen« Weibes mit dem »tierischen Blick« der Bewunderung für den Intellektuellen.

Der Abstieg des Intellektuellen ins »Außergesellschaftliche«

Althager, von Agathe verlassen (die ihn aber weiterhin finanziell unterstützt), von dem anpasserischen Hessl sich geistig entfernend, vom o­nkel in Paris »indirekt und in freundlicher Form« zum Selbstmord aufgefordert, landet nach »dem schiffbrüchigen Wassertreiben seines Lebens« in der abgewrackten Welt »der Anderen« an. Er wird Stammgast im »esoterischen Kreis des Cafés Schloderer«, wo der »außergesellschaftliche« Abschaum Abend für Abend um Geld zockt und ein »anstrengendes, gegenseitiges Lauern« in einer »Atmosphäre von Kampf und Intrigue« herrscht. Bald läuft ihm das »von einer klebrigen und unsauberen Körperlichkeit« gezeichnete Mädchen Mimi zu, das zuvor seinen täglichen Verdienst als Prostituierte dem Zocker Hernhäuser ablieferte, einem »ungarischen Juden, der sich ihr hart, mürrisch, geldgierig zeigte, und da er ein Jude war, sie fast nie schlug«.

Als der um seine Einnahmequelle gebrachte Zuhälter einige Abende später Althager von zwei Schlägern verprügeln lässt, kugeln sie ihm dabei den Arm aus – eine Schmerzerfahrung, die 10 Jahre später der verhaftete belgische Widerstandskämpfer Jean Améry unter der Gestapo-Tortur in einem Folterkeller der Festung Breendonk noch einmal machen musste! Danach versuchte er, sich das Leben zu nehmen. Althager aber, in einer Straßenbahn von einem wuchtigen betrunkenen Corpsstudenten an der wunden Schulter angerempelt, so dass ihn »der Schmerz mit der Härte eines stählernen Degens bis in den Nacken durchstach«, brüllte den torkelnden Kerl mit den Beleidigungen »Sie uckermärkischer Stierschädel, sie vertiertes Büffelgenick« an. Der Student fragt ihn: »Sind Sie Akademiker? Sind Sie Arier«. Beide mal bejaht Althager lügend (& wird prompt zum Duell aufgefordert) – aber als »diese Worte ausgeklungen waren, wurde ihm die Begründung plötzlich fremd und gerne hätte er sie wieder zurückgenommen«, denn es war ja keine »Verstandesentscheidung« gewesen, was ihn nun in ein atavistisches, absurdes Duell zwang, sondern »in ihrer instinktiven Wucht war sie nichts als das unüberwundene Ergebnis eines jahrhundertealten Assimilationswillens, eines Verlangens, das Eugen auch in diesen Tagen noch in sich trug und zu rechtfertigen wusste«.

Danach aber – und das antizipiert die spätere »Revolte« des humanistischen Existentialisten Jean Améry – verschmolzen für Althager »die bezahlten Strolche« im Café, denen der Schmächtige so wenig auswich wie dem stiernackigen Studenten in der Straßenbahn, zu einem »reinen Typ der Dummheit und der drohenden Rohheit. Er aber hatte in beiden Fällen die gute Haltung, den mühevoll errichteten, nur schwer lebendig gemachten Mut verteidigt. Sein war in beiden Fällen die zarte männliche, vom Geist gespeiste Kraft gewesen«: der physische Mut, aus der Ohnmacht und Feigheit herauszutreten und tätig zu widerstehen, koste es, was er wolle.

Diese Haltung des Widerstands kostet Althager das Leben in dem auf schwere Säbel ausgetragenen Duell, dem der ebenso stolze wie lebensmüde Althager mit einer Heiterkeit entgegengeht, die einen an Heinrich von Kleists Abschiedsbrief denken lässt. Der ist mit sich »im Reinen« – wie es später im belgischen Widerstand Jean Améry sein wird, als er zehn Jahre später Flugblätter einer Widerstandsgruppe verteilt, die ihn fast das Leben gekostet hätten (und ihm im Nachhinein lächerlich naiv erschienen).

Der ahnungslose prophetische Blick

Der letzte Satz und das letzte Wort »Der Schiffbrüchigen« aber gilt nicht Althager und nicht denen, die um ihn trauern, wie dem einsamen Hessl, der sich als letzter vom Grab entfernt: »Linienhaft und gerade lag die Allee vor Heinrich Hessl, parkhaft und zeitlos. Kaum wehte Staub auf, wenn der Wind über das Hügelland der Gräber strich. Ganz ferne, unten am Tor schon schlürfte gebückt, in ungebügelten Hosen, gesenkten Hauptes der alte Isralowitsch«. Mit dieser filmischen Einstellung auf den von allen (auch Eugen) im Café verachteten, gedemütigten und verhöhnten rumänischen Juden, der aber als einziger auf den verprügelten Eugen zugegangen war, ihm ein Tuch und Alkohol gegeben hatte, um seine Wunden zu reinigen und »in tiefer Ergebenheit an Eugens Gewand rieb«, öffnet der Roman den sowohl ahnungslosen als auch prophetischen Blick auf die ärmsten, hilflosesten der kommenden Opfer der deutschen Verbrechen, deren Vorschein schon tief in Hans Mayers »Welt von gestern« (Stefan Zweig) fällt.

»Verpuppt« ist in den »Schiffbrüchigen« bereits der spätere Jean Améry erstaunlich präsent: der Erzähler und der Essayist. Anders als sein Althager hat ihn die Zeit, die ihm lebensbedrohlich nahe rückte, an die Seite politisch aktiver Kameraden gedrängt; anders als sein trauriger, selbstbezogen-apathischer Untergeher, der »Schiffbruch« erleidet, hatte sich Jean Améry zu einem bewussten Akt des Widerstands entschlossen. Was Althager und ›Die Schiffbrüchigen‹ von Améry und seinem uns bekannten Oeuvre unterscheidet, ist der ethische Imperativ des Sartreschen Existenzialismus als Humanismus: Aufklärung als (Selbst-)Revision in Permanenz, wie der späte Améry seine letzte Stufe der Selbsterkenntnis kurz vor seinem Tod beschrieb.

Überblickt man von seinem Jugendwerk der »Schiffbrüchigen« aus sein literarische und geistige Präsenz in den Sechziger und Siebziger Jahren, so stellt sich der Eindruck ein, dass er, was noch Hans Mayer gärend und ungeschieden als Magma seiner Beschäftigung mit dem Leben, der Zeit und der menschlichen Existenz in dem Roman eines Dreiundzwanzigjährigen vor sich ausgebreitet hatte, danach Jean Améry mit einer erstaunlichen Kontinuität nahezu systematisch durch-, ab- oder aufarbeitete.

Ich denke dabei vor allem an jene Passage der »Schiffbrüchigen«, wo davon die Rede ist, dass Althager der »grenzsetzende Gedanke an den Selbstmord Halt und Rechtfertigung (seit der frühesten Kindheit) war« und ihm »der frei gewählte Tod als die einzige Sterbensmöglichkeit« erschien, weil er »die Vorstellung nicht ertrug, willenlos und ins Müssen gebannt einmal dazuliegen und das große Vergehen zu erwarten«.

Die Freiheit, nach eigenem Willen zu sterben und nicht als Opfer der Apparatemedizin dem Auslöschen entgegen zu dämmern, hat Jean Améry in den beiden großen Essays »Über das Altern« und »Hand an sich legen« von Grund auf durchdacht – bevor ihre Themen à jour & auf die Agenda kamen. Und dass er schließlich selbst den »fernen Schutzwall« überstieg, wird in seinem wie in allen anderen Fällen (und selbst bei jenen, die den Akt von eigener Hand zu begründen suchen mochten) Umstände & Momente, bewusste & unbewusste gehabt haben, die sich den Hinterbliebenen wie dem Gegangenen nicht offenbarten.

| WOLFRAM SCHÜTTE

Titelangaben
Jean Améry: Die Schiffbrüchigen
Stuttgart: Klett Cotta 2007
330 Seiten, 22 Euro
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