Der österreichische Bestsellerautor und Träger des ersten Deutschen Buchpreises Arno Geiger packt aus. Das glückliche Geheimnis, das er sehr sympathisch, offenherzig und unverstellt lüftet, enthüllt sein Doppelleben als Mülltaucher und literarischer Zweitverwerter. Ob die Koketterie mit der Verwerflichkeit allerdings angebracht ist, hat der Leser selbst zu entscheiden. Von INGEBORG JAISER
Zu Beginn seiner schriftstellerischen Karriere war noch die sommerliche Tätigkeit als Videotechniker bei den Bregenzer Festspielen ein fester Punkt in Arno Geigers Vita. Und man kann sich gut das beflissene Bildungsbürgertum vorstellen, das während einer Porgy and Bess– oder La Bohème-Vorstellung wohlwollend sinnierte, welchen Anteil an der Aufführung dieser aufstrebende junge Autor wohl innehat. Dass sein (Erwerbs-)Leben weitaus weniger glamourös und faszinierend verlief, offenbart Arno Geiger nun in seinem neuesten Roman, der vielleicht gar nicht diese Bezeichnung verdient, so unmittelbar und authentisch liest sich dieser Werdegang eines beharrlichen Schriftstellers.
Gut 25 Jahre lang ging Arno Geiger verschämt, aber starrköpfig einer Beschäftigung nach, die er als Das glückliche Geheimnis bewahrt hat, denn: »Dass meine Beine aus einer Altpapiertonne ragten und sonst nichts, war nicht vereinbar mit meinem Selbstbild eines souveränen Künstlers.« Mit fast trotziger Übertreibung fasst er rückblickend zusammen: »Ich war ein Vagabund, ein Stadtstreicher, ein Lumpensammler«, einer, der im Müll anderer Menschen wühlt.
Exklusive Lektüre
Als außergewöhnliche studentische Nebenbeschäftigung beginnt ursprünglich das, was Arno Geiger schlicht seine »Runden« nennt. Frühmorgens steht er auf und radelt in entfernte Wiener Bezirke, um dort den Papiermüll nach weggeworfenem und wiederverwertbarem Material zu durchforsten – ein Containern nach geistiger Nahrung. Glücklich und erschöpft kehrt er Stunden später zurück, mit antiquarischen Romanen, entsorgten Tagebüchern und ganzen Briefkonvoluten. Vieles davon lässt sich nutzbringend recyceln.
Die Bücher sorgen durch Flohmarktverkäufe für willkommene Einnahmen, die höchst privaten Aufzeichnungen Unbekannter gewähren dem werdenden Schriftsteller ungeahnte Einblicke und Inspiration. Manche seiner Romane wären ohne diese Zufallsfunde wohl nicht entstanden oder so nie geschrieben worden. »Das größte Tagebuchkonvolut, das ich gefunden habe, fünfunddreißig Bände, habe ich subjektiv mit mehr Gewinn gelesen als Auf der Suche nach der verlorenen Zeit«, verrät Arno Geiger. »Das liegt zwar auch an meinem so gänzlich anderen Zugang, an der Exklusivität der Lektüre, am Wissen, dass ich der einzige Mensch bin, der diese Zeilen je zu lesen bekommt.«
Ein Porträt des Künstlers als junger Mann
Die regelmäßigen »Runden« sorgen auch für eine angemessene Work-Life-Balance. Frühes Aufstehen, körperliche Bewegung und ein selbstvergessener Flow bieten den Ausgleich für die nachfolgende konzentrierte Arbeit am Schreibtisch. Auch wenn Arno Geiger fast nebenbei und mit erstaunlicher Bescheidenheit von seinem schriftstellerischen Werdegang erzählt, einem langsamen Aufstieg, der vor allem einer Mischung aus eigener Beharrlichkeit und außenstehender Förderung zuzuschreiben ist, säumen Romane, Preise, Stipendien seinen Weg.
Doch der sich einstellende Erfolg schlägt zurück. Als Geiger 2005 als erster Schriftsteller, den damals neu aus der Taufe gehobenen Deutschen Buchpreis entgegennimmt, tritt er noch etwas ungelenk in einem geliehenen Anzug, »in zu weiten Hosen und zu engem Kragen«, im Frankfurter Römer auf. Die nachfolgenden Verpflichtungen und Termine verschlingen ihn vollständig, lassen keine Zeit mehr für die ausgleichenden Streifzüge. Seine Freundin, eine Ärztin, erahnt einen Burnout. Erst als er erneut zu seinen »Tauchgängen« zurückkehrt, tritt Besserung ein. Ironie des Schicksals: in dieser Zeit entdeckt er erstmals im Altpapier »eine schiefgelesene Taschenbuchausgabe« seines eigenen Romans Es geht uns gut. Ist er vielleicht schon zu lange im Geschäft?
Rückverzauberung entzauberter Dinge
Arno Geiger erzählt mit entwaffnender Offenheit und Aufrichtigkeit entlang seines glücklichen Geheimnisses von frühen Liebes-Irrungen und Wirrungen, von familiärer Erdung und wechselseitiger Inspiration. Das Wühlen im Müll fremder Menschen, die Entrümpelung des eigenen Elternhauses und der Erfolgsroman Der alte König in seinem Exil gehen Hand in Hand. So liest sich Arno Geigers aktuelles Buch über weite Strecken als soziologischer Essay über das Sammeln als Kulturtechnik einerseits und die Notwendigkeit des Wegwerfens andererseits, aber auch über die »Rückverzauberung entzauberter Dinge«.
Frappierend, wie diese durch Feldstudien entstandene Phänomenologie des Papiermülls zugleich gesellschaftliche Entwicklungen abbildet. Nicht nur den Umbruch im Zeitungswesen, auch die sich verändernden Nutzungs- und Lebensgewohnheiten: vom Handgeschriebenen in Kurrentschrift über Liebesromane und Sudokuhefte zu Weinkartons und Verpackungen von Chia-Samen. Letztendlich verdankt Arno Geiger diesen Fundstücken seine unschätzbare Menschenkenntnis: »Ich kenne Glück und Kummer aus zwei Jahrhunderten.«
Titelangaben
Arno Geiger: Das glückliche Geheimnis
München: Hanser 2023
236 Seiten. 25 Euro
| Erwerben Sie diesen Band portofrei bei Osiander
Reinschauen
| Leseprobe
| Mehr zu Arno Geiger in TITEL kulturmagazin