Roman | Jan Böttcher: Y
Der Buchstabe »Y« hat die Form eines Baumes oder einer Weggabelung. Jan Böttcher wagt in seinem neuen Roman Y ein Experiment: Zwei ganz unterschiedliche Menschen begegnen sich, finden kurzzeitig zueinander, um danach wieder getrennte Wege zu gehen. Jan Böttcher wird zum Wanderer zwischen zwei Extremwelten und erzählt eine große europäische Geschichte. Von HUBERT HOLZMANN
Jan Böttcher, der auch Sänger und Songtexter der Berliner Band Herr Nilsson ist, wirft bereits in seinem vierten Roman Das Lied vom Tun und Lassen (2011) einen Blick in das Spannungsfeld von seltsamer Nähe und plötzlicher Distanz. In Y geht diese Ambivalenz ins Existenzielle und wirkt dadurch zunächst durchaus befremdlich. Auf der einen Seite gibt es Jakob Schütte, einen durchaus verschrobenen Computerspieldesigner aus reicher Familie, ihm gegenüber steht Arjeta Neziri, die in den 90er Jahren als Kind mit ihrer Familie aus dem Kosovo nach Deutschland gekommen ist und komplett andere kulturelle Wurzeln besitzt.
Jakob und Arjeta haben in Lüneburg dieselbe Schule besucht und begegnen sich auf einer Fete in Hamburg wieder, wo Arjeta fast etwas zufällig in seine »Wohnung gespült« wird. Beide ziehen zusammen, lassen sich aufeinander ein und auch Jakob versucht, die fremde Kultur der Familie aus dem Kosovo zu verstehen. Ihre Beziehung ist jedoch nicht ganz unkompliziert. Leka heißt der gemeinsame Sohn, den Arjeta allerdings, als sie nach dem Kosovokrieg mit ihrer Familie wieder in die Heimat zurückkehrt, mit sich nimmt. Nach Jahren will dieses Kind, seine eigenen Wurzeln kennenlernen und sucht den Vater, der mittlerweile in Berlin lebt.
Die Vergangenheit im Blick
An diesem Punkt beginnt die Geschichte, die uns aus der Sicht eines Ich-Erzählers geschildert wird. Dieser, ein Berliner Schriftsteller, könnte durchaus das Alter Ego des in Berlin lebenden Jan Böttchers sein. Was zunächst etwas umständlich scheint, denn es bleibt zunächst im Dunkeln, weshalb Böttcher eine erneute distanzierende Instanz dazwischenschaltet, entpuppt sich jedoch zum einen als eine Art Fixpunkt, an dem sich beide Welten brechen und spiegeln, die ins Virtuelle hinüberspielende Welt des Computerfreaks und die oft gnadenlos harte Realität von Arjeta.
Denn in der Beziehung des Erzählers zu seinem eigenen Sohn Benji, der den fremden Jungen Leka kennenlernt, als dieser illegal aus dem Kosovo nach Berlin reist, wiederholt sich mancher Konflikt und wird dadurch auch zugespitzt. Wie Jakob Schütte reisen auch der Erzähler und Benji eines Tages in den Kosovo und wollen diese ganz andere Welt des Kosovo erleben, die Menschen dort wiedertreffen. Dieser Plan erweist sich jedoch in beiden Fällen, für Jakob als auch die beiden anderen Deutschen, als ziemlich schwierig. Da scheint es schon wesentlich einfacher zu sein, in den virtuellen Raum von Jakobs Computerspiel einzudringen. In eine fiktive Kriegswelt, in der sich die kriegerischen Auseinandersetzungen zwischen Serben und den Menschen aus dem Kosovo wiederholen.
Krieg und Frieden
Die Welten in Jan Böttchers Roman Y könnten gegensätzlicher nicht sein. Das Leben des Programmierers Jakob Schütte verläuft ohne jeglichen biografischen »Knick«. Der junge Mann kann eigentlich vollkommen ohne jegliches Risiko seine Interessen ausleben, auch wenn er damit nicht unbedingt dem »Mainstream« folgt. Denn er lebt für seine Computerwelt. Er arbeitet nachts und kommt im Grunde ohne Mitmenschen aus. Ihm genügt ein Rechner mit Internetanschluss. Da kann er schon mal einige Zeit in Prishtina untertauchen, um zu arbeiten und nebenbei Kontakt mit seinem Sohn zu haben.
Ein angesagtes Londoner Startup-Unternehmen wird auf seine Spieleapp aufmerksam und bietet ihm eine Stelle inklusive Wohnung im angesagten Londoner Osten an. Für Jakob geht es also »back to life«. Mit dem Verdienst macht er sich anschließend in der Gegend um den Berliner Mauerpark herum selbstständig. Absolut »hip«. Einer mehr in Prenzlberg.
Der Kosovo hat dieses sichere Leben nicht zu bieten: Anlass für die erste Flucht der Familie Neziri nach Deutschland in den 80ern ist die Tatsache, dass das Familienhaus von Serben in Brand gesteckt wurde. Später wird im Krieg ein Bruder von Arjeta verwundet und auch in der Folgezeit wird noch ein Freund der Familie von der Mafia des Balkanstaats umgebracht. Also alles andere als harmlose Verhältnisse. Arjeta, die als Deutschlehrerin in Prishtina arbeitet, engagiert sich zugleich in der alternativen Kunstszene, die im Untergrund existiert, und arbeitet mit einem Video- und Installationskünstler zusammen.
Diese Unsicherheit und feindliche Welt muss Jakob in einer Situation erleben, als er im Land über den Krieg recherchiert. Ansonsten gibt es Gefahr nur virtuell in seinen Videospielen. In seinem erfolgreichsten Programm wird der Dritte Weltkrieg simuliert. Die Bilder und die Szenerie entnimmt er dem Kosovo. Jakob stellt also für sein Spiel ganz reelle Schauplätze nach. Und auch Situationen, von denen er erfährt, tauchen im Spiel auf. Ein größerer Gegensatz wie zwischen Jakob und Arjeta ist also kaum vorstellbar.
Und dazwischen stehen der Erzähler und sein Sohn vollkommen hilflos, sie können nicht vermitteln, nichts Verbindendes schaffen. Die Deutschen fühlen sich im Kosovo also ein Stück weit wie die Familie Neziri in Deutschland – als Fremdkörper. Und das, obgleich sich beide Parteien um Integration und Anpassung bemühen. Beide stoßen letztendlich auf dieselben Schwierigkeiten. »In Lüneburg hob [Neziri] Baugruben aus – in Prishtina hatte er noch in der Pension gearbeitet und die besten Anzüge getragen. Die harte körperliche Arbeit war ihm zu hart und zu körperlich. Und Arjeta, sie bekam ein schlechtes Gewissen. Sie war in Kosova auf eine gute Schule gegangen, in Deutschland hatte ihr Vater dafür gesorgt, dass sie auf eine noch bessere ging.« Jan Böttchers Roman Y erzählt eine Begegnung, ein Zusammentreffen, ein Auseinanderstreben. Ein ergreifendes Buch.
Titelangaben
Jan Böttcher: Y
Berlin: Aufbau 2016
256 Seiten. 19,95 Euro
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