Junger Mann ohne Eigenschaften

Roman | Arno Geiger: Selbstporträt mit Flusspferd

Spätpubertierende Studenten, unerfüllte Liebe und ein antriebsloses Hippopotamus vermengt der österreichische Autor Arno Geiger zu einem trägen Sommerroman. Gelangweilt kämpft sich INGEBORG JAISER durch ein fahles Selbstporträt mit Flusspferd.

Geiger_24761_MR2.inddSommer 2004. Im nordossetischen Beslan bringen Geiselnehmer über 1000 Personen in ihre Gewalt. In Weimar gerät die Herzogin-Anna-Amalia-Bibliothek in Brand. Im Kino laufen »Die fetten Jahre sind vorüber“ und im Radio dudelt Mando Diao.

Nur in Wien scheint die Zeit stillzustehen. Über den Naschmarkt schlendern uniformiert wirkende Kreativschaffende mit ihren ewig gleichen Taschen aus LKW-Planen und die Universität spuckt müde Studenten am Ende des Sommersemesters aus. Wer kann, macht jetzt die Fliege und fährt in Urlaub.

Ende des Sommersemesters, Ende der Beziehung

Nur der 22-jährige Julian Birk, Student der Veterinärmedizin und Abkömmling von entwurzelten Bauern und Gastwirten aus dem Vorarlberg, bleibt in der stickigen Hauptstadt kleben. Eben wurde er von seiner energischen, lebensfrohen Freundin Judith verlassen und zu allem Unglück stellt ihr geschäftstüchtiger Vater auch noch Regressforderungen. So sieht sich der sonst eher etwas antriebslose Julian genötigt, einen Ferienjob anzunehmen.

Kommilitone Tibor vermittelt die scheinbare Traumstelle bei Professor Beham, dem sterbenskranken ehemaligen Rektor der veterinärmedizinischen Fakultät, einem pferdegesichtigen, meist grantelnden Emeritus mit dichtem, in die Höhe gekämmtem Haar und einer »von Alter und Genussmitteln gegerbten Stimme«.

Das Flusspferd ist kein Facebook-Kandidat

In seinem Garten suhlt sich ein Zwergflusspferd, das im Frühjahr bei einer Routinekontrolle total verwahrlost aus einem Transporter gezogen wurde. Julian soll die Pflege übernehmen. Schnell fühlt er in dem unförmigen, teilnahmslosen Tier einen Bruder im Geiste: »Das Zwergflusspferd steht für all das, was heute ein bisschen außer Mode ist. Es ist dick, träge, hässlich, verschlossen. Kein Facebook-Kandidat.«

Reizvoller erscheint da schon Professor Behams Tochter Aiko, »ein prätentiöses, ätherisches Wesen« und zudem noch fünf Jahre älter als Julian. Dass man ihr einen verflossenen belgischen Lover und eine Vergangenheit bei einem französischen Nachrichtenmagazin nachsagt, umgibt sie mit einem zusätzlichen Mythos der Unnahbarkeit. Und dennoch kommt ihr Julian näher, langsam und gemächlich, während er wahlweise dem leise schnaubenden Flusspferd den Rücken abbraust und kiloweise Gemüse klein schneidet – oder dem todkranken Professor frisches Marihuana und alten französischen Wein zuführt. Die studentischen Youngster verdrücken so lange Pizza oder streiten über korrekte Mülltrennung.

Gähnende Leere

Das alles zieht sich über fast 300 Seiten träge dahin, seltsam zäh und blutleer. So uninspiriert und fad hat man als Leser den vielfach ausgezeichneten Autor Arno Geiger noch nie erlebt, derselbe Arno Geiger, dem 2005 der Deutsche Buchpreis verliehen wurde und der mit seinem letzten Roman Der alte König in seinem Exil ein klares, feinsinniges und zutiefst berührendes Buch geschrieben hat, facettenreich zwischen Herzenswärme, Verzweiflung und Verunsicherung changierend.

Selbst mit einigem guten Willen lässt sich das farblose Selbstporträt mit Flusspferd weder als moderner Entwicklungsroman noch als Coming-of-Age-Schnulze lesen, zu trantütig wirkt der Protagonist, zu konstruiert der Plot. Darüber trösten auch eigenwillige Erkenntnisse nicht hinweg, wie die Aussage, dass »Karate auch eine Übung in Sparsamkeit« sei oder: »Festplatten von Computern muss man zehnmal überschreiben, damit die Daten, die man löschen will, auch wirklich gelöscht sind.«

Am Ende ist große Abreise angesagt: die schwangere (von wem?) Aiko in Richtung Paris, das dösende Hippopotamus auf dem Weg zu einem Basler Zoo. Was bleibt? Ein gähnendes Flusspferd und gähnende Leere. Und der miefige Wienfluss plätschert schal dahin.

| INGEBORG JAISER

Titelangaben
Arno Geiger: Selbstporträt mit Flusspferd
München: Carl Hanser 2015
287 Seiten. 19,90 Euro

Reinschauen
| Arno Geiger in TITEL kulturmagazin

Ihre Meinung

Your email address will not be published.

Voriger Artikel

Warten

Nächster Artikel

Spiele, Sex und Social-Media

Weitere Artikel der Kategorie »Roman«

When shall we three meet again

Roman | François Vallejo: Drei französische Schwestern Die französischen Schwestern, der neue Roman von François Vallejo, erzählt von 50 Jahren einer merkwürdigen und doppelbödigen Freundschaft, dabei wird die deutsch-französische Freundschaft nicht nur zufällig gestreift. Ein abgrundtief köstliches Lesevergnügen, findet HUBERT HOLZMANN.

Das Leben als Elegie

Roman | Wilhelm Genazino: Bei Regen im Saal Bei Regen im Saal – der neue Roman von Georg-Büchner-Preisträger Wilhelm Genazino. Von PETER MOHR

Undank ist der Welten Lohn

Roman | Larry Law: Die wahre Geschichte von Captain Misson und der Republik Libertatia »Es wäre ja auch ein Witz, wenn wir Untertanen von Leuten würden, die noch größere Schurken als wir selbst sind!« – STEFAN HEUER hat für TITEL die deutsche Übersetzung von Die wahre Geschichte von Captain Misson und der Republik Libertatia von Larry Law gelesen.

Troja am Atlantik

Roman | Don Winslow: City on Fire

Es sollen seine letzten Bücher werden. Mit der Trilogie über eine irische Mafia-Gang in den USA der 1980er Jahre, deren erster Band, City on Fire, nun auf Deutsch vorliegt, will sich Don Winslow von seinen Lesern verabschieden. Nicht in den Ruhestand, wohlgemerkt, sondern in den Kampf gegen die weltweit spürbare existentielle Krise der Demokratie, die in seiner Heimat, wie er fürchtet, erneut in einer Präsidentschaftskandidatur von Donald Trump kulminieren könnte. Dass sich dieser Kampf besser mit Argumenten, wie Winslow sie zum Beispiel auf seinem Twitter-Kanal oder in kurzen YouTube-Filmen an Millionen von Followern versendet, ausfechten lässt statt mit Romanen, ist dabei die feste Überzeugung des Erfolgsautors. Von DIETMAR JACOBSEN

Spion zwischen allen Stühlen

Roman | Joseph Kanon: Leaving Berlin Leaving Berlin ist der zweite im Berlin der unmittelbaren Nachkriegszeit spielende Thriller des US-amerikanischen Bestsellerautors Joseph Kanon. Während The good German (2001, deutsch 2002 unter dem Titel In den Ruinen von Berlin) unmittelbar nach Kriegsende, im Juli 1945, spielt und den Kampf der Siegermächte um Hitlers Raketentechnologie und die Männer, die an deren Entwicklung beteiligt waren, ins Zentrum stellt, kreist Kanons letztes, im amerikanischen Original 2013 erschienenes Buch um ein anderes brisantes Thema jener Zeit, den Uranabbau in Bergwerksanlagen der sowjetischen Besatzungszone und späteren DDR. Unter dem Firmennamen »SAG Wismut« wurde ab 1946 zunächst