Kinderbuch | Saskia Hula, Eva Muszynski: Gilberts grausiges Getier
Fantasie haben ist schön. Zuweilen zeigt sie einem aber Dinge, die man lieber nicht sehen möchte. Monster in jedem Winkel, zum Beispiel. Wie kann man nur verhindern, dass sie über einen herfallen? Indem man außer der Fantasie den Verstand in Gang setzt. Man muss eben Köpfchen haben. Saskia Hula lässt in Gilberts grausiges Getier den Angstbetroffenen gegen die Angst antreten und Eva Muszynski malt die Welt dazu aus. Von MAGALI HEISSLER
Die Welt, in die wir gleich zu Beginn der Geschichte eintreten, ist eine Wohnung, aber sie ist enorm groß. Das ist kein Wunder, ist der Held dieser Geschichte doch sehr klein. Da wird ein Flur endlos, Treppenstufen sind nicht zu zählen, die Zimmer werden weit, Wände und Decken verlieren sich in der Ferne. Die Weite füllt sich mit Unheil. Wer kann denn sagen, was hinter einem passiert, wenn man sich wegdreht? Oder über einem? Oder unter dem Tisch mit den hohen Beinen? Da ist Platz genug für ein wütendes Nashorn! Fledermäuse sausen durch die Luft und böse Schlangen zischen aus den Ecken. Gilbert kennt sich aus.
Gut, dass es Mama gibt. Wenn sie da ist, wagt sich kein wildes Tier heraus, nicht einmal der Wolf mit den gelb funkelnden Augen. Daher achtet Gilbert streng darauf, dass er stets in der Nähe von Mama ist. Leider findet Mama, dass Gilbert durchaus mal allein bleiben kann. Und dann passiert das Schreckliche, Mama ist fort und Gilbert sitzt allein in der Küche. Nun ist guter Rat teuer.
Wenn man mal muss …
Hula hat mit ihrer Geschichte eine kindliche Angstsituation präzise eingefangen. Gilberts Angst vor dem Alleinsein in einer räumlichen Weite, die er nicht überblickt, hat sich konkretisiert und in schreckliche Tiere verwandelt, die nur darauf lauern, ihn zu verschlingen. Seine Fantasie hat die Oberhand gewonnen. Umso größer ist der Schreck, als seine Mutter erzieherisch Taten folgen lässt und ihn für ganz kurze Zeit allein lässt.
In der Folge muss Gilbert gleich mit zwei Problemen fertig werden. Zuerst damit, verlassen worden zu sein und dann, dass er in der ganz neuen Situation reagieren muss. Er kann nicht tatenlos bleiben, er muss nämlich aufs Klo.
Hula lässt ihren Helden schlagartig wachsen, geistig und körperlich. Mama hatte bereits erkannt, dass Gilbert groß genug ist, allein zu bleiben. Kurz vor dem Ende der Geschichte erhält er auch handgreiflich den Beweis dafür. Das ist nur ein Beispiel für den großartigen inneren Zusammenhang dieser ganz knapp erzählten Geschichte, die im Kern tatsächlich sehr komplex ist. Gilberts Mutter setzt auf das Selbstvertrauen des Kleinen und prompt zeigt es sich.
Das immer dringender werdende körperliche Bedürfnis setzt dann einen Denkprozess in Gang. Ohne seine Fantasien von grausigen Untieren schlagartig aufzugeben, findet Gilbert in seiner Not eine Möglichkeit, mit seinen Ängsten rational umzugehen. Das ist ungemein pfiffig gedacht, aber durchaus im Bereich des Möglichen. Es ist schließlich immer wieder erstaunlich, wozu man fähig ist, wenn man in einer Zwangslage steckt. Wenn man muss.
Witz und zeichnerischer Hintersinn
Die Welt, in der Hulas kleiner Held agiert, lässt Eva Muszynski in großflächigen Bildern lebendig werden. Sie zeigt sie immer aus den Augen Gilberts. Angst einflößende Weite, kohlrabenschwarze Monster, vorgeblich unbestimmbare Proportionen, lauernde Schatten. Das Auge wird getäuscht, das Ungeheuerliche versteckt sich im Alltäglichen. Ein Schirmständer wird zum Versteck von Aasgeiern, Möbelstücke haben plötzlich einen Fuß zu viel. Lehnt dort der Schlauch des Staubsaugers oder ist das eine Riesenschlange? Gilbert ist ein rundum putziges Kerlchen, aber nie verniedlicht. Die Autorin nimmt ihren Helden ernst. Die Angst auf seinem Gesichtchen ist echt, genauso wie seine Zweifel und später die Konzentration bei der erzwungenen Erforschung der unheimlichen Welt. Der Hintersinn, das Quäntchen Ironie, das der Geschichte ihr letztes Funkeln verleiht, steckt in der Gesamtheit des Erzählten. Niemand macht sich über das echte Leiden des Kleinen lustig.
Die Farben sind verhalten, böses Rot und furchtbares Schwarz Gilberts Angstfantasien vorbehalten. Mit dem Fortschreiten der Handlung wird es in der Wohnung heller, in dem Maß, in dem unter Gilberts jetzt forschendem Blick die Proportionen zurechtrücken. Wie der Text sind auch die Bilder vielschichtig.
Kleine Leserinnen und Leser werden mit beträchtlicher Spannung, einem Schuss echten Horrors und viel Witz unterhalten. In der Situation, vom Alleinsein bis hin zum Drang, schleunigst zur Toilette zu müssen, werden sie sich problemlos wiederfinden.
Dass der kleine Held sein Problem ganz allein löst, und das höchst einfallsreich, macht Mut und stärkt das Selbstbewusstsein. Mehr kann man von einem Buch kaum verlangen.
| MAGALI HEISSLER
Titelangaben
Saskia Hula, Evy Muszynski, Gilberts grausiges Getier
Hildesheim: Gerstenberg Verlag
32 Seiten. 12,95 Euro
Bilderbuch ab 4 Jahren