Tintin und der Sirenengesang

Comic | Mark Siegel: Sailor Twain oder Die Meerjungfrau im Hudson

Mark Siegel wagt viel in seinem Comicroman Sailor Twain, der bei Egmont erschienen ist. Mit einer großen Bandbreite an grafischen Ausdrucksmöglichkeiten erzählt er ein erotisches, vielschichtiges Märchendrama mit geschichtlichem Hintergrund. BORIS KUNZ hat seinem Sirenengesang lange gelauscht.

Mark Siegel - Sailor Twain
Mark Siegel – Sailor Twain
1887: Auf dem Hudson River im Bundesstaat New York prägen stolze, luxuriöse Raddampfer das Landschaftsbild. Auf einem von ihnen, der den bezeichnenden Namen »Lorelei« trägt, muss sich der vergleichsweise junge Kapitän Twain (nicht mit dem Schriftsteller gleichen Namens verwandt oder verschwägert) mit allerhand Merkwürdigkeiten herumschlagen, beispielsweise mit dem spurlosen Verschwinden des Schiffseigners oder mit zwei vorwitzigen Knaben, die als blinde Passagiere im Schaufelradkasten versteckt Huckleberry Finn lesen.

Doch all diese Probleme verblassen für den schweigsamen Seemann, als er eines Abends eine wahrhaftige Meerjungfrau aus dem Wasser zieht, die eine schwere Verletzung von einer Harpune im Unterleib hat. Twain versteckt die magische Kreatur, deren Existenz er mit erstaunlicher Gelassenheit hinnimmt, in seiner Kabine und pflegt sie dort gesund. Dabei nimmt er ihr das Versprechen ab, niemals für ihn zu singen. Damit rettet er, ohne es zunächst so recht zu verstehen, sein Leben, denn wie sich im Verlauf der Geschichte herausstellen wird, hat die Meerjungfrau aus dem Hudson dieselbe Angewohnheit, für die auch schon andere Meerjungfrauen in der Literatur Berühmtheit erlangt haben: Sie verzaubert Männer mit ihrem magischen Gesang, schlägt sie in ihren Bann und lockt sie schließlich auf den Grund des Flusses…

Stimmungsvolles Seemannsgarn

Autor und Zeichner Mark Siegel scheint ein Tausendsassa zu sein, der als Kinderbuchautor ebenso tätig ist wie als Comicverleger. Seine Novelle erzählt er episch und mit langem Atem. Mit Kohle und Bleistift und ohne den Einsatz von Farben lässt er über fast 400 Comicseiten den zauberischen Mikrokosmos an Bord eines Raddampfers des 19. Jahrhunderts entstehen, wobei er sich dabei auf eine Handvoll Figuren beschränkt. Neben Twain und dem geheimnisvollen Passagier in seiner Kabine sind da noch Lafayette, der aus Frankreich angereiste Bruder des verschwundenen Gründers der Schifffahrtsgesellschaft, der das Schiff seit einigen Wochen für keinen Landgang mehr verlassen hat und sich die Zeit an Bord mit Vielweiberei vertreibt, der stocktaube Heizer Horatio, einziger Überlebender eines legendären Dampferunglücks, sowie die bildschöne und emanzipierte Schriftstellerin Camomille Beaverton, die in ihren populären Büchern Reiseführer und Legendensammlung miteinander verknüpft. Manche von ihnen wissen es bereits, andere werden es erst noch schmerzlich erfahren müssen, aber ihr aller Schicksal ist bereits auf Gedeih und Verderb mit der Meerjungfrau verknüpft.

Sailor Twain. Bild: (c) Egmont/Siegel/First Second Books
Sailor Twain. Bild: (c) Egmont/Siegel/First Second Books
Der Stil von Siegels Artwork ist vielschichtig und bringt Elemente zusammen, die auf den ersten Blick gar nicht so gut zusammenzugehen scheinen. Mal unordentlich skizzenhaft, mal in verschwommenen Stimmungsbildern, mal in klaren, kräftigen und einfachen Strichen, verändert Siegel die Intensität seiner Zeichnungen, als wäre er ein Kameramann, der verschiedenen Bildebenen verschiedene Schärfenzeichnungen zugedacht hat. Mit seinem kantigen, einfach gezeichneten Gesicht mit den tellergroßen Augen, dem wirren Strubbelhaar und dem undefinierbaren Alter wirkt die Hauptfigur Twain ein wenig wie aus der Zeit gefallen, als wäre sie ein Fremdkörper in ihrer eigenen Geschichte.
Anderen Figuren gönnt Siegel sorgfältigeren, detaillierteren Realismus, einprägsame Visagen zwischen Karikatur und Porträt. Vor allem die Damen sind in Antlitz und Körperbau liebevoll ausgeprägt. Ähnliches gilt für das Drumherum: Während Siegel bei der Ausstattung des Dampfers durchaus ins Detail geht, bekommt man das Schiff als Ganzes eigentlich immer nur schemenhaft und wie durch Regen und Nebel verwaschen und verschwommen zu sehen. Vom Realismus einer Ligne Claire ist Siegel also weit entfernt, auch wenn Twain mit seiner simplen, als Projektionsfläche für den Leser dienenden Physiognomie gewisse Ähnlichkeiten mit Tintin nicht leugnen kann.

Stille Wasser sind tief

Diese Art von Magischem Realismus, die sich in den Zeichnungen auf jeder Seite niederschlägt, prägt auch das Storytelling. Zunächst lässt sich Siegel viel Zeit dafür, uns in die Seelen seiner Figuren blicken zu lassen und ihre vielschichtigen Porträts gut im Zeitkolorit des 19. Jahrhunderts zu verankern. Irgendwann aber öffnet er die Pforten ins Reich der Fantasie vollkommen und lässt uns hinabtauchen in das magische Zwischenreich auf dem Grunde des Hudson River. Hier wird dem Leser allerdings relativ spät in der Erzählung noch einmal viel zugemutet: Als die Geheimnisse der Meerjungfrau endlich gelüftet und die Wirkungsweise ihres Zaubers detailliert erläutert werden, hält eine neue Art der Fantasterei in die Geschichte Einzug, die so ausgedacht und abgehoben wirkt, dass das Schlusskapitel die zuvor so gekonnt austarierte Balance zwischen Historiendrama und Märchen zu kippen droht.

Am Ende muss der Leser also, nachdem er lange Zeit mit äußerst kunstvollen Sirenengesängen immer tiefer in diese stimmungsvolle Graphic Novel gelockt worden ist, mit den tellergroßen Augen der Hauptfigur zu staunen und zu akzeptieren bereit sein, damit der Zauber nicht schon vor dem melancholischen Schlussakt verpufft.

| BORIS KUNZ

Titelangaben
Mark Siegel: Sailor Twain oder Die Meerjungfrau im Hudson (Sailor Twain or The Mermaid in the Hudson)
Aus dem Amerikanischen von Volker Zimmermann
Köln: Egmont Graphic Novel 2013
400 Seiten, 24,99 €

Reinschauen
Facebook-Seite von Egmont Graphic Novel
Informationsseite zu Sailor Twain

Ihre Meinung

Your email address will not be published.

Voriger Artikel

Rocky aus der Röhre!

Nächster Artikel

Das Beste aus der Hölle

Weitere Artikel der Kategorie »Comic«

Ein Mönch fährt in die Ferne

Comic | Zep: Der ferne, schöne Klang

Nach den zwei Sci-Fi-Comics ›Paris 2119‹ und ›The End‹ veröffentlicht Zep, der für seine ›Titeuf‹-Reihe bekannt ist, eine weitere Graphic Novel für Erwachsene: In ›Der ferne schöne Klang‹ widmet er sich den leiseren und tieferen Moll-Tönen des Lebens. Denn es geht um den Kartäusermönch Marcus, der seit Jahrzehnten sein Kloster nicht verlassen hat, aber nun, um eine Erbschaft antreten zu können, nach Paris reisen muss. Dabei begegnet er auf der Straße einer Frau, die ihn wieder mit den Seiten des Lebens vertraut macht, die er bereits vergessen hatte. Von FLORIAN BIRNMEYER

Getting down with Valentina

Comic | Guido Crepax: Valentina Underground Mit ›Valentina Underground‹ ist beim ›avant-verlag‹ der zweite Sammelband einer der größten Heldinnen erschienen, die das Medium Comic je geboren hat. CHRISTIAN NEUBERT nahm sich die rund 50 Jahre alten Geschichten vor. Und ist immer noch baff.

Der lange Atem des Todes

Comic | Terry Moore (Text und Zeichnungen): Rachel Rising – Tochter des Todes »Bei Morgengrauen erwacht Rachel im Wald. Mühsam schleppt sie sich nach Haus. Erst allmählich merkt sie an den Reaktionen ihrer Umwelt, dass mir ihr etwas nicht stimmt. Sie ist tot.« Mit dieser Prämisse beginnt ›Rachel Rising‹, die neue Serie des ›Strangers in Paradise‹-Schöpfers Terry Moore. BORIS KUNZ wollte sich nicht entgehen lassen, von Anfang an dabei zu sein.

Folter in Blau

Comic | Guy Delisle: Geisel 111 Tage war Christophe André eine Geisel. Als Mitarbeiter der Nichtregierungsorganisation ›Ärzte ohne Grenzen‹ wurde er 1997 im Nordkaukasus von tschetschenischen Separatisten entführt und für eine Erpressung gefangen gehalten, bis ihm aus purem Glück die Flucht gelang. Der Comicdokumentarist Guy Delisle hat den Mann ein paar Jahre später kennengelernt und eine ausführliche Biographie über Andrés Zeit in Gefangenschaft kreiert – in Comicform. Sie heißt ›Geisel‹. PHILIP J. DINGELDEY hat sich das ergreifende und bedrückende Buch angesehen.

Erfinder eines modernen Pantheon

Comic | Stan Lee: Helden, Götter und Mutanten Der Band ›Helden, Götter und Mutanten‹ ist nicht die erste, schon gar nicht die umfangreichste Huldigung an den amerikanischen Comicautor Stan Lee, der Anfang der 1960-er Jahre ein Neuerer des Superheldengenres war. Zu diesem Zeitpunkt waren die in Latex gekleideten Muskelmänner, anders als im Zweiten Weltkrieg und in neuerer Zeit, keineswegs zentrale Figuren der Populärkultur. Mit Hilfe von Lee hat der Verlag Marvel sie wieder dazu gemacht. Ob das Buch sich lohnt und gegebenenfalls für wen, schätzt ANDREAS ALT ein.