Comic | Gipi: Die Welt der Söhne
Das Tagebuch des verstorbenen Vaters als Möglichkeit einer Insel: In dem postapokalyptischen Comic ›Die Welt der Söhne‹ schickt der italienische Künstler Gipi zwei Brüder auf eine Reise ins Ungewisse. Von CHRISTIAN NEUBERT
Punkt, Punkt, Komma, Strich: Ein Mondgesicht kann jeder. Der italienische Comic-Künstler Gipi schafft mit diesen basalen Ausdrucksmitteln Himmelspanoramen. Auenlandschaften. Die rastlose Ruhe stehender Gewässer. So schön, dass man eintauchen, sich in ihnen verlieren, in ihnen aufgehen möchte. Wenn die Zeichnungen nicht eine Welt am Abgrund zeigen würden. Die Endzeit in einfachen schwarzen Strichen: Das, was von der Welt nach der allumfassenden Katastrophe übrig ist, hat selten reduzierter, zurückgenommener, karger ausgesehen. Und doch: Was Gipi mit wenigen Strichen scheinbar mühelos aufs Papier wirft, könnte in seinem Ausdruck kaum üppiger sein. Seine ›Welt der Söhne‹ beeindruckt.
›Die Welt der Söhne‹ ist kaum noch besiedelt. So etwas wie eine Zivilisation gibt es nicht mehr, nur hier und da noch vereinzelte Menschen, die das fragwürdige Glück hatten, zu überleben. Wie jener Vater, der mit seinen beiden Buben – pubertäre Burschen, der eine vielleicht 14, der andere etwas älter – am See lebt.
Er hat sie noch gekannt, die Zeit, in der man ein Zuhause mit Heizung, Sofa und Teppich hatte. Und vielleicht einen Hund, den man streichelte. Die beiden Buben dagegen kennen Hunde nur noch als Nahrung. Als willkommene Abwechslung im Speiseplan, nachdem man ihnen den Bauch aufgeschlitzt und die Galle rausgenommen hat. Bevor die Fliegen kommen und Eier legen.
Trübe Aussichten
Die Suche nach Nahrung bestimmt den Tagesablauf der Burschen. Der Fisch ist meist giftig, der See voller menschlicher Kadaver. Kontakt mit den anderen Überlebenden zu halten, die in gebührendem Abstand ebenfalls irgendwo am Ufer leben, ist wichtig. Man tauscht untereinander nützliche Sachen. Vertrauen allerdings, eventuell gar Freundschaft … nein, so richtig gibt es das nicht mehr. Nur sich und die seinen. Bis eben der nächste gehen muss. Der Vater stirbt. Die Söhne sind fortan auf sich allein gestellt.
Was ihr Vater ihnen hinterlassen hat? Härte, Kälte, Unbarmherzigkeit. Eigenschaften, die er ihnen anerzogen hat, damit sie in dieser lebensfeindlichen Umwelt bestehen können. Und sein Tagebuch. Lesen können sie es nicht. Lesen war kein Bestandteil des Überlebenstrainings. Nicht mal Neugierde, vielmehr Vorsicht. Trotzdem wollen sie wissen, was ihr Vater niedergeschrieben hat. Sie wollen es erfahren, dieses erste und letzte Zeugnis von Kultur. Und wagen schnell den Aufbruch, der sie zunächst ins Ungewisse, dann ins Ungeheuerliche führt. Weil ›Die Welt der Söhne‹ von weiteren Söhnen bevölkert wird. Von verschrobenen Einzelgängern, abstoßenden Schweinefarmern und brutalen Sektierern. Sie ist eine Männerwelt, in der jeder gegen jeden kämpft. Und wohl nur Frauen etwas daran ändern können, dass man auch permanent gegen sich selbst anficht.
Düsteres Weltbild
Coming of Age in der Endzeit: Gipis postapokalyptische Vision ist äußerst pessimistisch in ihrem Realismus. ›Die Welt der Söhne‹ beherrscht ihr Genre-Vokabular, setzt neben sensibel betrachteten Momentaufnahmen und feinfühligen Beobachtungen auf packende Dynamik und plötzlicher Spannung. Was hier nicht normal ist, wird schnell zur Katastrophe, wobei alleine schon die Normalität ja eine solche ist. Als Leser vergisst man das nur, wenn Gipi es beabsichtigt. Weil in der »Welt der Söhne« alles stimmt, vom Timing und der Tiefe des Blicks bis zum letzten Tuschestrich.
Titelangaben
Gipi: Die Welt der Söhne
Aus dem Italienischen von Myriam Alfano
Berlin: Avant Verlag 2018
288 Seiten, 30 Euro
| Erwerben Sie dieses Buch portofrei bei Osiander
[…] Titel Kulturmagazin vom 10.10.2018 […]